Es gibt Tage wie von Geisterhand gesteuert. Dienstag war ein solcher. Ein kurzer Blick ins Internet. Ein Video aus Aleppo, letzte Botschaften eingekesselter Syrer. Hilfeschreie. Große, vor Angst aufgerissene Augen. Ein Appell an die Menschlichkeit. Eine Stadt in Schutt.
Der Computer abgedreht. Eine Weihnachtsfeier. Tolle Location. Ausgelassenheit. Gute Gespräche. Alles in Hülle und Fülle.
Spätnachts schnell noch ein Blick ins Internet. Die Aufzeichnung des ORF-Bürgerforums mit Bundeskanzler Christian Kern und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner. Es geht um Flüchtlinge in Österreich. Menschen, „die nicht vor Krieg flüchten“, sondern ein besseres Leben hier suchen (Robert Lugar, Team Stonach). Menschen, „die mit Bombenhagel zu tun haben“ (Mitterlehner). Wie ist das wohl, wenn man mit Bombenhagel „zu tun hat“?
Wieder Videos aus Aleppo. Und dann eines aus dem UN-Sicherheitsrat: Die Botschafterin der USA, Samantha Power, ist am Wort. Sie richtet sich an Syrien, Russland und den Iran: „Sie sollten sich schämen. Sind Sie wirklich unfähig, sich zu schämen. Gibt es tatsächlich nichts, das Sie beschämt? Kein Akt der Barbarei gegen Zivilisten? Keine Hinrichtung von Kindern geht Ihnen unter die Haut, widert sie an?“ Russlands Botschafter Vitaly Churkin spricht ihr das Recht ab, wie „Mutter Teresa“ zu reden. Sie möge sich die Erfolgsgeschichten ihres eigenen Landes ansehen, dann erst könne sie ihre Meinung von einer Position der „moralischen Überlegenheit“ vortragen. Gott werde entscheiden, wer schuld war. (https://www.facebook.com/Channel4News)
Und dann wieder diese Videos aus Aleppo, die Kinder, die von ihren Müttern durch die zerbombten Strassen gezerrt werden, stolpern; die Wägen mit den Leichen; die Bitten an die Welt „Lasst uns nicht im Stich“ und irgendwo die Meldung: „Die UNO spricht von einem totalen Kollaps der Menschlichkeit“. Wieder.
Wie war das damals 1948 als die Palästinenser nach der Gründung des Staates Israel vertrieben wurden? Da hat die Welt sie auch im Stich gelassen. Susan Abulhawa hat es in ihrem Roman „Während die Welt schlief“ beschrieben. Es gab damals noch keine Videos. Die UNO schon.
Wie war es 1994 in Ruanda, als Mitglieder der Hutu-Mehrheit, viele von ihnen Angehörige der Armee, der Polizei, der Verwaltung, mindestens 800.000 Tutsi ermordet haben? Auch das die Folge eines Konflikts zwischen Regierung und Rebellen. Einen, gegen den die UNO eine Friedenstruppe eingesetzt hat. Sie haben das Massaker nicht verhindert. Beobachtet schon. Man hatte sie vor Ausbruch der Gewalt auch noch verkleinert.
Und wie war das nur ein Jahr später, 1995, in Bosnien, als in Srebrenica mehr als 8000 Männer und Burschen von der Armee der Republika Srpska und anderen Serben ermordet wurden? Die Blauhelmsoldaten der UNO sind nicht eingeschritten. Beobachtet schon. Untätig auch.
In den neunziger Jahren gab es noch keine sozialen Medien, in denen Opfer noch einmal ihre Geschichte erzählen konnten, noch einmal einen Hilferuf in die Welt absetzen konnten. Jetzt schon. Doch wozu, wenn die Welt schläft?
Später einmal, so Power vor dem UN-Sicherheitsrat am Mittwoch, wird Aleppo schwer auf dem Gewissen der Welt last – wie Ruanda, wie Srebrenica. Und dann?
Es ist ein so unfassbarer Zynismus, mit dem die internationale Staatengemeinschaft seit Jahren den Bürgerkrieg in Syrien „begleitet“. Es ist ein unfassbarer Zynismus, mit dem die Milliarden teure Bürokratie der UNO aufrecht erhalten wird, ohne dass sie ihrer Aufgabe in Konfliktfällen wirklich gerecht wird. Ist eine unfähige UNO besser als keine? Ja! Ist eine Reform unter den gegebenen globalen Machtverhältnissen unrealistisch? Wahrscheinlich! Ist es eine Marotte der Geschichte, dass ausgerechnet während der Tragödie von Aleppo der neue UN-Generalsekretär António Guterres vereidigt wurde? Gewiss!
Das Video von der Amtsübergabe in New York an diesem Dienstag musste nicht mehr sein. Ausschalten. Die Bilder der gequälten und ermordeten Zivilisten in Syrien bleiben vor Augen. Der Tag war endlich vorüber. Irgendwann wird sich auch die Welt für Aleppo schämen.
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