2015, der Sommer, in dem sich Österreich selbst überraschte und die New York Times von einem „Irrenhaus der Freiwilligkeit“ schrieb. 2015, der Sommer, in dem die Regierung der Massenflucht aus dem Nahen Osten Wochen und Monate lang hilf- und tatenlos gegenüberstand und erst ab Juli von einer immer aktiver werdenden Zivilgesellschaft zum Umdenken gezwungen wurde. 2015, der Sommer, in dem vor allem auch junge Menschen an der Aufgabe gewachsen sind, den Tausenden Flüchtlingen in Wien zu helfen; in dem sie an der Grenze zu Ungarn, im Burgenland, in Wien Bewundernswertes geleistet haben.
2015, der Sommer aber auch, in dem die notwendigen Hilfeleistungen ab einem gewissen Punkt Ende August von einer erstaunlichen Hysterie begleitet wurden; sich das Land vor allem in den sozialen Medien in die „Guten“, die Freiwilligen, und die weniger Guten, die Passiven, teilte; in dem das anderswo Selbstverständliche mit einem völlig unverhältnismäßigen Stolz überfrachtet wurde. Plötzlich waren da Menschen „so stolz auf dieses Österreich“, die auch im normalen Leben wenig Grund haben, nicht stolz zu sein. Ganz so als würde das Elend Tausender sie plötzlich von ihrem nationalen Grant befreit haben. Aus einer historisch einmaligen Situation leiteten da offenbar manche ein Selbstwertgefühl ab, das sie im „normalen Leben“ nicht zu spüren vermögen.
Nichts davon soll die Anstrengung, den Einsatz, die Energie der Freiwilligen, von denen die New York Times glaubte, sie würden die Bedürftigen zahlenmäßig da und dort sogar übertreffen, klein reden. Nichts davon soll ihnen den Stolz auf ihre eigene Leistung nehmen. Aber es muss erlaubt sein, in diesen massenphänomenalen Tagen, auch auf die versteckte Agenda gewisser Teile der Gesellschaft hinzuweisen. Es schien in letzter Zeit so, als gehöre es geradezu zum guten Ton, sich von dem einen oder anderen Überflüssigen zugunsten der Flüchtlinge zu trennen.
„Ich habe gespendet“ wurde so manchmal zu einem Code-Satz für „Seht her, auch ich bin gut“. Und mitunter keimt der Verdacht auf, die Hilfeleistung von heute wird der Freibrief von morgen für Ausländerfeindlichkeit und Integrationswiderstand nach der Art des Hauses Ursula Stenzel sein. Im Sommer 2015 habe man ja auch und ohnehin - und sich ein für alle Mal der Verpflichtung entledigt, die eigene Einstellung den „Anderen“ gegenüber reflektieren zu müssen.
Deshalb bin ich in den letzten Tagen nicht zum Westbahnhof gegangen. Das A-Dabei-Sein ist immer suspekt, vor allem aber, wenn es um die Bedürftigkeit anderer geht. Den Stillen ist zu danken, jenen, die sich in ihrer Anstrengung und ihrer Mühe bei der Hilfe nicht von einer politischen Partei und nicht von Salon-Freiwilligen auf deren einen Fahrt zum Bahnhof oder zur nächsten Sammelstation vereinnahmen lassen; jenen, die es nicht notwendig haben, sich ein Federl auf den Hut zu stecken – auf das sie später, wenn es um die Mühen der ruhigen Akzeptanz der „Anderen“ im Land gehen wird, als Alibi für Aggressionen verweisen werden.