Nicht erstaunlich, aber merkwürdig, ist die Aversion, die Angela Merkel in den Reaktionen hier und in anderen Medien nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche zur Bildung einer neuen Regierung in Deutschland entgegenschlägt. Da fühlen sich offenbar jetzt viele in ihrer Abneigung bestätigt, die es immer schon gewusst haben wollen.
Diese Einschätzung ist so legitim wie jene derer, die meinen, Merkel bemühe sich ehrlich, Deutschland auf Kurs in Europa zu halten. Man kann die Ansicht vertreten, zehn bis zwölf Jahre Kanzlerschaft seien in jeder westlichen Demokratie genug – und eben auch für Merkel und ihre CDU. Man kann aber auch der Meinung sein, Merkels unaufgeregter Gegenentwurf zum Populismus (auch der Schwesterpartei CSU) sei von Niveau und Inhalt ihrer Aussagen her gerade jetzt wichtig.
Aber eines kann man nicht: Übersehen, wie sehr gerade Österreich von der Politik Angela Merkels, die jetzt ausgerechnet hier so flächendeckend mit dem Hinweis auf die Flüchtlingskrise von 2015 verteufelt wird, profitiert hat und noch immer profitiert. Ihr damaliges „Wir schaffen das“ gilt jetzt als Ursprung allen Übels. Ihre Flüchtlingspolitik damals wird ihr jetzt so oft vorgehalten, dass eine andere Sicht der Dinge nicht akzeptiert wird. Beim Merkel-Bashing fühlen sich offenbar viele Österreicher einfach wohl und überlegen. Merkwürdig ist nur, dass dieses gerade hierzulande mit einer solchen Lust betrieben wird.
Um Siegmund Freud kurz hereinzubringen: Vielleicht verübelt man ihr eine Haltung, zu der man selbst nicht fähig ist?
Ist der Tellerrand tatsächlich so hoch, dass man nicht darüber hinaus schauen kann? Sind wir wirklich zu borniert, um uns eine andere Perspektive vorstellen zu können?
In drei Bereichen gibt es in Österreich keinen Grund für jene Schadenfreude über die Entwicklung in Deutschland wie sie in den Reaktionen durchschimmert.
Da ist einmal die Flüchtlingspolitik des Jahres 2015: Was hätte es für Österreich bedeutet, wenn Deutschland nicht 890.000 Flüchtlinge ins Land gelassen hätte? Das Argument, ohne Merkels „Wir schaffen das“ wären nie so viele gekommen, ist auf Österreich bezogen nicht stichhaltig. Vielleicht wären es nicht 890.000 gewesen, aber mit Sicherheit viele Hunderttausende. Schließlich war nicht der als „Einladung“ verunglimpfte Satz der Grund für ihre Flucht, sondern der Krieg in Syrien, die unzureichende Hilfe der UNO in den Lagern, das Elend also. Österreich wäre ohne das Durchwinken nach Deutschland nie in der Lage gewesen, die Flüchtlingswelle zu stoppen oder die Massen zu versorgen. Zuerst die Asylwerber an die deutsche Grenze bringen, sie dann bei zunehmenden Kontrollen der Deutschen an der grünen Grenze in der Nacht ins Nachbarland zu schicken und sich jetzt, da die Deutschen mit den Konsequenzen leben müssen, in Schadenfreude ergehen? Ein eindeutigeres Beispiel für Schlawinertum lässt sich nicht denken. Durchwinken, loswerden, aufregen.
Dann ist da die Wirtschaft in Deutschland: Glaubt wirklich jemand ernsthaft, die Konjunktur in Österreich wäre in diesem Jahr ohne den deutschen Motor so angesprungen? Will wirklich jemand ernsthaft behaupten, Österreich hat aus dem Stand und ganz allein ein unerwartet hohes Wachstum erreicht? Wie würden wir dastehen, wenn sich Deutschland noch in der Wirtschaftskrise befände?
Die Abhängigkeit von der Entwicklung im Nachbarland ist weder neu noch verwerflich. Österreich ist damit in Jahrzehnten nicht schlecht gefahren. Allein, sich jetzt, da Deutschland in eine völlig ungewohnte politische Situation gerutscht ist, der deutschen Bundeskanzlerin der letzten 12 Jahre vorzuwerfen, sie „versteht nichts von Politik“ und leide an „grenzenloser Selbstüberschätzung“ ist nicht nur überheblich, sondern auch realitätsfremd.
Hätte Österreich in den letzten Jahren Verantwortliche gehabt, die so wenig von Politik verstanden haben wie Merkel, würden wir uns heute nicht mit Schuldenberg und Budgetdefizit abmühen müssen.
Und schließlich Europa: Es ist mir völlig unverständlich, wie jemand Schadenfreude empfinden kann, wenn in dieser globalen Situation mit Brexit, Donald Trump in den USA, der Gefahr der Ent-Demokratisierung in etlichen EU Mitgliedstaaten wie Ungarn und Polen, mit Krisen im Mittleren Osten und Asien ein so mächtiger Staat wie Deutschland möglicherweise monatelang ohne entscheidungsfähige Regierung sein wird. Sollte es zu einer Neuwahl kommen, dann wird diese – so scheint es der Fristenlauf vorzuschreiben – erst im April 2018 möglich sein. Mit Jänner 2018 übernimmt Bulgarien den EU-Vorsitz – ein bekannt stabiles, korruptionsfreies Land, nicht wahr?
Man kann der Meinung sein, Angela Merkel sollte sich zurückziehen. Aber man kann – aus purem Eigeninteresse Österreichs – eine Schwächung der EU und somit Europas nicht begrüßen. Es sei denn, man fährt aus lauter Selbstgefälligkeit die Scheuklappen aus und erspart sich damit den Blick über den Tellerrand.
Sven Mandel - Eigenes Werk