Dieses verflixte Dilemma: Gedanklich, emotionell, interessensmäßig beschäftigt man sich dieser Tage mit dem Massengrab im Mittelmeer. Aber dazu ist schon alles geschrieben, jede Forderung erhoben, jede Klage veröffentlicht, jede Verachtung der untätigen EU (wer ist das überhaupt?) gegenüber ausgedrückt – von Berufenen und weniger Berufenen. Aber soll womöglich der Verfall einer politischen Partei, die über die Legislaturperiode hinweg Millionen an Steuergeld einkassiert, das Team Stronach gar, Thema sein? Das wäre in diesen Tagen der Lächerlichkeit wohl zu viel und ganz so als würde man die Opfer der Flüchtlingstragödie in Südeuropa durch Gleichgültigkeit noch zusätzlich abwerten.
Was also kann noch geschrieben werden? Vielleicht das:
Das Interesse der österreichischen Parlamentarier an der Flüchtlingskatastrophe zwischen Nordafrika und Europa war am Mittwoch bei der Debatte darüber auffallend gering. Die Reihen im Plenum schütter besetzt. War die ganze Betroffenheit am Montag bei der Kundgebung am Wiener Minoritenplatz mit all den schönen Worten bereits aufgebraucht worden? Ein paar waren am Mittwoch für einen Antrag von SPÖ und ÖVP noch übrig: Die Regierung wurde aufgefordert, „die Ausweitung und Verbesserung von europäisch koordinierten Such- und Seenotrettungsprogrammen im Mittelmeer zu unterstützen sowie weitere geeignete Maßnahmen zu setzen, um den weiteren Verlust von Menschenleben im Mittelmeer zu verhindern“. Geht’s noch unverbindlicher?
Ein Antrag der Grünen, das Programm „Mare Nostrum“ wieder aufzunehmen, wurde abgelehnt. Das würde Österreich ja Geld kosten, nicht wahr, wenn die EU beschließen sollte, ein „Mare Nostrum 2.0“ zu finanzieren. Da wäre Österreich auch in die Pflicht genommen. So weit will man denn doch nicht gehen.
Aber die Heuchelei spielt sich nicht nur innerhalb Österreichs Grenzen ab. Der konservative australische Premierminister Tony Abbot etwa, sah sich tatsächlich berechtigt, der EU gute Ratschläge zu erteilen: Flüchtlingsboote systematisch abfangen und einfach zur Umkehr zwingen. Eben so wie es Australien macht. Ab nach Indonesien! Down Under mit tausenden Kilometern Ozean auf allen Seiten des Kontinents und nur einer blassen Ahnung von Bürgerkrieg und Unruhen (Osttimor) in der Nachbarschaft muss man ja das Elend in Syrien, Libyen und afrikanischen Staaten nicht so genau kennen. Da ist man mit forschen Ratschlägen eben schnell bei der Hand und kümmert sich nicht um humanitäres Geschwafel: Abfangen, abdrängen, basta! So einfach sieht die Welt auf der anderen Seite des Globus aus.
Oder sie, die Heuchelei, ist in den Medien zu finden: So veröffentlichte die „New York Times“ den Beitrag des britischen Publizisten Kenan Malik unter dem Titel „Immigranten stehen vor dem Todesgraben der Festung Europa“. Eigentlich müsste man von den britischen Inseln aus das Chaos der Bürgerkriege, die Gewalt von Isis und Boko Haram eher erkennen können als von Australien. Malik liest der EU gehörig die Leviten, wobei unklar bleibt, ob Großbritannien mit einbezogen ist. Er spricht immer nur die Europäische Union an: „Die Europäische Union muss aufhören, Migranten wie Kriminelle zu behandeln und Grenzkontrollen als Krieg zu sehen. Sie muss die Festung Europa niederreißen, die Einwanderungspolitik liberalisieren und Migranten legale Wege öffnen (...) Die Festung Europa hat nicht nur eine physische Barriere um den Kontinent aufgebraut, sondern auch eine emotionale um Europas Menschlichkeit.“ (http://www.nytimes.com/2015/04/22/opinion/migrants-face-the-mediterranean-europes-deadly-moat.html?
An sich richtige Worte des Autors eines Buches über die globale Geschichte der Ethik. Nur, Heuchelei auch hier. Es ist immer nur von der „Europäischen Union“ die Rede. Das schafft Distanz. Wer aber ist sie, wenn nicht auch Großbritannien, wenn nicht wir? National EU- und ausländerfeindliche Kräfte stärken wie eben jetzt die United Kingdom Independence Party (UKIP) vor der Parlamentswahl, europäisch aber betroffen sein?
Die Flüchtlinge ertrinken nicht nur vor dem „Todesgraben“, sie stehen nicht nur vor der „Europäischen Union“, die als solche noch niemand getroffen oder begrüßt hat, sie scheitern an den Europäern. Also an uns.
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