Was ist sie nun? Die „Kanzlerin der freien Welt”, zu der sie Anfang Dezember das US-Magazin „Time“ ernannt hat oder rücktrittsreif, wie am Tag genau einen Monat später in der „New York Times“ zu lesen war? Zwischen den beiden Urteilen über die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel liegt die Horrorsilvesternacht von Köln. Und auf diese bezogen stellte eine junge Kölnerin in einem ORF-Interview eine interessante Frage: Was war eigentlich mit der Zivilgesellschaft in dieser Nacht, warum sind umstehende Menschen nicht gegen die sexuellen Übergriffe auf Frauen eingeschritten, habe denn niemand etwas gesehen?
Aufschlussreich ist ein Vergleich der Begründungen von „Time“ für seine Wahl und vom Autor der „New York Times“ Kolumne „Deutschland vor dem Abgrund“, Journalisten Ross Douthat für seine Rücktrittsforderung. Wofür Merkel vom Magazin ausgezeichnet worden war, wurde sie von Douthat verdammt.
„Time“(übersetzt von ZEIT online): "Bei Merkel schwang ein anderer Wertekanon – Menschlichkeit, Güte, Toleranz – mit, um zu zeigen, wie die große Stärke Deutschlands zum Retten statt zum Zerstören genutzt werden kann. Es ist selten, einem Anführer bei dem Prozess zuzusehen, eine alte und quälende nationale Identität abzulegen."
„New York Times“: „Das bedeutet den Abschied von der kühnen Illusion, dass Deutschland von vergangenen Sünden mit Hilfe unbekümmerter Humanität in der Gegenwart freigesprochen werden kann. Es bedeutet, dass Angela Merkel gehen muss – so dass ihr Land und der Kontinent, den es dominiert, verhindern kann, einen zu hohen Preis für ihre überhebliche Torheit zu bezahlen.“
Aufschlussreich deshalb, weil sich beide Autoren, Chefredakteurin Nancy Gibbs, und Douthat auf die Vergangenheit Deutschlands beziehen. Gut, aus der Sicht von US-Journalisten ist das nicht weiter verwunderlich, wirft aber doch die Frage auf: Wann wird Deutschland je aus den Schatten seiner Vergangenheit entlassen werden? Man möge sich nur vorstellen, wie das Urteil ausgefallen wäre, hätte Merkel sich so verhalten wie Douthat es jetzt von ihr verlangt: Grenzen zu, Massendeportation aller junger gesunder Männer. Da hätte man sich in den USA wahrscheinlich über das „hässliche Gesicht“ Deutschlands mokiert.
Interessant ist die Auszeichnung und Verdammung aber auch deshalb, weil es ein und dieselbe Person betrifft: In nur vier Wochen können die Medien aus einer bewunderten Führungsfigur die gefährlichste Frau in Europa machen. Kein Wunder, dass die Glaubwürdigkeit der Medien und Journalisten an solchen Bocksprüngen der Beurteilung Schaden nimmt. Was nun, mögen sich viele Deutsche fragen.
Wie gesagt, der Unterschied liegt in der Silvesternacht in Köln. Aber mit weniger Erregung und stärkerer Beachtung der Fakten wird man zu dem Schluss kommen: Versagt hat die Polizei, versagt hat die Einsatzplanung, versagt haben vielleicht auch einzelne Polizisten, weil sie auf solche Ereignisse nicht vorbereitet wurden oder waren. Die Ereignisse in Köln sagen aber nichts darüber aus, ob Deutschland die Flüchtlingswelle nun „schafft“ oder nicht. Alles andere sind Schutzbehauptungen einer schlecht geführten Exekutive.
Womit man bei der zweiten berechtigten Frage angelangt wäre, jener der jungen Kölnerin im ORF: Ist es wirklich vorstellbar, dass niemand die bedrängten Frauen bemerkt hat? Haben in der Masse alle weggeschaut? Wo waren die „gesunden jungen“ deutschen Männer, die einschreiten hätten können?
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