Bad Godesberg, ein Stadtteil Bonns, hat sich seit dem letzten Besuch vor Jahrzehnten sehr verändert. Das Viertel, wo sich das Haus der Kammerspiele aufhält, erinnert an Istanbul. Nur das Goldene Horn, die Wärme des Orients und die Touristen fehlen. Dafür findet man leicht einen Parkplatz.
In vielen Ländern dieser Welt haben sich Gesellschaften gebildet, in denen Christen und Juden zusammenarbeiten, um einem neuen Holocaust für die Juden zuvorzukommen. Nur Israel hat sich für einen anderen Weg entschieden, der dafür erfolgversprechend zu sein scheint.
Bedeutungsschwanger sprechen diese Gesellschaften vom theologischen Kennenlernen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben sich Christen und Juden aufeinander zubewegt, genauer, die Katholiken haben ihre antisemitischen (Altsprech: antijudaistischen) Einstellungen zurückgenommen. Was sich im Judentum gegenüber dem Christentun verändert hat, ist schwer nachzuvollziehen. Unvorstellbar, dass sich die jüdische Orthodoxie dem Christentum annähert. Irrelevant, was die progressiven Juden treiben, denn in spätestens einer Generation sind sie verschwunden.
Doch auch wenn der Zweite Weltkrieg schon seit drei Generationen nicht mehr tobt, ist das miteinander Reden unendliche Mal besser als das schönste Pogrom.
Die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit sind unter einem weltweiten Dach als ICCJ (International Council of Christians and Jews) gebündelt. In regelmäßigen Abständen treffen sie sich in schönen Städten (vor zwei Jahren in Rom). Diesmal hat der ICCJ beschlossen, das Jahrestreffen in Deutschland abzuhalten, weil Luther vor 500 Jahren die Reformation in Ostdeutschland, damals Mitteldeutschland, angeschoben hat. Deshalb erhält das Treffen in Bonn den Titel:
Martin Luther und 500 Jahre Tradition und Reform im Judentum und Christentum.
Welche Reformen Martin Luther im Katholizismus und im Judentum angeworfen hat, wird noch nicht verraten. Die Katholiken hoffen, dass damit ihr Verhältnis zu den Juden gemeint ist. Die Juden sind der Ansicht, dass sie sich täglich reformieren oder zumindest einmal pro Generation.
Die Eröffnungsfeier findet in den Kammerspielen von Bad Godesberg statt und ist mit einigen Hunderten von Teilnehmern sehr gut besucht. Interessant ist die Theaterdekoration: ein Wohnzimmer mit Küche. Diese Dekoration ist nur deshalb präsent, damit anschließend ohne Zeitverlust ein sicher gutes Stück in den Kammerspielen aufgeführt werden kann. Aus diesem Grund treibt die nette Moderatorin die letzten Vortragenden an, sich kürzer zu fassen. Denn die Aufführung mit besagter Dekoration sei vorverlegt worden.
Die Reden der gewöhnlich männlichen Rednern werden von Musik umrandet. Die Stücke klingen interessant, um nicht befremdlich zu schreiben. Selbst „Somewhere“ aus Leonard Bernsteins „West Side Story“ konnten die meisten musikalisch gebildeten Zuhörer nicht richtig zuordnen. Beruhigend und zur Musik passend, dass das Thema der Tagung die Reformation im Judentum und im Katholizismus abhandelt!
Die Festrede hält Rabbiner Abraham Skorka aus Argentinien, der seit Jahren mit dem jetzigen Zweitpapst befreundet ist. Der Rabbiner erzählt statt jüdischer Witze Bobbe-Majsses. Ich erwarte von den christlichen Mitgliedern der ICCJ, dass sie nach 70 Jahren Annäherung an Juden genau wissen, was „Bobbe-Majsses“ sind, auch wenn sie dem Talmud entstammen. Mit seiner Festrede umschifft Rabbiner Abraham Skorka aus Argentinien jede erdenkliche Klippe. Dafür sind wir alle ihm dankbar.
Dann darf der aus Jerusalem stammende und in Jordanien (als Flüchtling?) lebende christliche Palästinenser Monib Younan sprechen, der nebenbei Präsident des Lutherischen Weltbundes ist. Nebbich. Monib Younan ist der letzte lebende Würdenträger, der das Kairos-Palästina-Dokument unterschrieben hat. Darin werden alle Juden als Sünder gegen Gott und der Judenstaat Israel als Apatheidsregime bezeichnet, welches es zu beseitigen gilt (beide: Juden und Israel). Monib Younan entstammt einer griechischen Familie, die äußerst selten Lutheraner sind. Doch gibt es auch in Deutschland Christen, die sich aus Karrieregründen entscheiden, sich als Juden auszugeben, sog. Kostümjuden. In einer zeitraubenden und überlangen Rede fordert der palästinensische Christ die Weltchristen auf, neben dem christlich-jüdischen sofort ein christlich-islamisches Forum aufzubauen und nicht erst damit zu warten, bis die Muslime in Deutschland und anderswo in der EU einem Holocaust unterzogen werden. Deshalb verlangt er von seinen Zuhörern, sich genauso gegen Islamophobie wie gegen Antisemitismus einzusetzen. Dabei vergisst er geflissentlich zu erwähnen, dass Islamophobie die Angst vor dem Islam, wohingegen Antisemitismus der todbringende Hass auf Juden ist. Der Beifall aus dem Zuhörerraum des Theaters unterscheidet sich weder in der Länge, noch in der Intensität von denen für andere Redner. Die dokumentierten Gesichtsausdrücke der Mitredner auf der Bühne sprechen dafür für sich eine überaus deutliche Sprache.
Mit Kardinal Reinhard Marx, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, taucht die erste zuhörenswerte Rede auf. Der in Trier geborene Bischof behauptet, dass Marx (und Engels!) gute katholische Trierische Familiennamen sind, was schlagartig erklärt, dass seine Vorfahren Juden gewesen sind. Marx berichtet über die Versäumnisse des Vatikans während der Hitlerherrschaft und über die Anstrengungen, die der Vatikan nach Ende des Weltkrieges unternommen hat, um sich den Juden anzunähern. Aus seiner Rede ist Reue herauszuhören. Marx ist ja nicht der einzige deutsche Kardinal mit jüdischen Vorfahren. Schade, dass sie alle keine Nachkommen zeugen.
Auch der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland ist zum Reden eingeladen, da Bonn mit Bad Godesberg im Rheinland liegt. Seine Rede ist ehrlich und gut. Er entschuldigt sich für das Verhalten der deutschen Lutheraner in der Nazizeit, die zwar Mitchristen zu retten versucht haben, aber die Juden links liegen gelassen haben. Man hört seiner Stimme an, dass er es Ernst meint und er sich damit von der Mehrheit der Lutheraner absetzt. Wenn er so weiter macht, wird er sein Amt verspielen und die ICCJ wird ihn verleugnen. Schade, ein guter Mensch, obwohl lutherisch.
Dann ergreift der Jude Abraham Lehrer und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Köln, der ältesten Jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen, was vom Stadtrat der Stadt Köln schriftlich und offiziell bezweifelt wird, das Wort. Es ist leider kein Wort, sondern ein Redeschwall. Er zählt aktuelle irrelevante und niemanden interessierenden christliche Vergehen auf, die ihm nur deshalb auffallen, weil er Vizepräsident des Zentralrat der Juden in Deutschland ist, dessen Präsident Josef Schuster, der auf seinen Dr.-Titel großen Wert legt, aus Würzburg in Unterfranken kommt, wo die unwichtigen katholischen Ausrutscher stattgefunden haben. Damit versucht er, den Antisemitismus zu usurpieren, was glücklicherweise kein Zuhörer mitbekommt. Wäre der katholische Sünder wenigstens ein Kinderschänder, so stünde ihm eine große Karriere im Vatikan bevor.
Wegen fortgeschrittener Zeit und weil die Bühne für den nächsten Auftritt geräumt werden muss, fassen sich der Präsident des ICCJ und die katholische Präsidentin des deutschen Zweiges des ICCJ erfreulich kurz, sodass der Schreiber dieser Sätze kurz vor dem Verdursten eine halbwegs kalte Cola im Foyer ergattern kann. Der Ausgang des Theaters wird von einem hünenhaften Reformjuden versperrt, der sich leidenschaftlich mit einem Mönch unterhält. Hier drängt sich Heinrich Heine „Disputation in der Aula zu Toledo“ auf:
Doch es will mich schier bedünken,
Daß der Rabbi und der Mönch,
Daß sie alle beide stinken.