Deutschland und die Geburtenrate

Da haben wir es: Deutschland hat die niedrigste Geburtenrate der Welt! Das hat eine Studie des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts jetzt herausgefunden. Und wahrscheinlich gibt es kein Medium landauf und landab, das diese Neuigkeit nicht groß herausgebracht hat. „Wir liegen sogar noch hinter Japan“ schreiben die Zeitungen aufgeregt, so als wäre die Zahl der Geburten eine Art internationale Olympiade, bei der wir, Skandal, so überhaupt keine Chance auf Medaillen haben!

Allerdings – wenn man genauer hinschaut – ist eigentlich gar nicht viel passiert. Das „schlechte“ Abschneiden Deutschlands liegt nämlich nicht daran, dass die Gebärfreudigkeit noch mehr abgenommen hätte als sowieso schon. Sondern der Grund ist, dass diese Studie einen anderen Maßstab nimmt, als andere Studien: Nicht die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau (die so genannte „Fertilitätsrate“) war das Kriterium, sondern die „Geburtenrate“, also Zahl der Geburten pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner. Da aber alte Menschen nunmal keine Kinder bekommen, ist die Geburtenrate logischerweise umso niedriger, je höher der Anteil älteren Menschen in einer Gesellschaft ist. Ganz unabhängig davon, wie viele Kinder einzelne Frauen bekommen. Denn Frauen jenseits der Fünfzig kriegen in aller Regel keine Kinder mehr.

Deshalb ist es auch kein Wunder, dass in der internationalen Geburten-Olympiade die ärmsten Länder so „gut“ abschneiden, Niger zum Beispiel, mit 50 Geburten pro tausend Einwohnerinnen und Einwohner. Super Sache, so viele Kinder? Ganz und gar nicht. Denn die hohe Geburtenrate ist nur eine Folge davon, dass die Menschen in Niger vergleichsweise früh sterben. Und deshalb der Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter dort eben viel, viel höher ist als in Deutschland.

Es ist fahrlässig und verzerrend, den Faktor Geburtenrate in demografischen Diskussionen unabhängig vom Faktor Lebenserwartung zu diskutieren. Denn beides hängt miteinander zusammen. Meine Lieblingsgeschichte, die das wunderbar anschaulich macht, ist eine Folge aus der Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“. Captain Kirk und seine Besatzung kommen darin auf einen Planeten, in dem die Medizin so weit entwickelt ist, dass die Menschen praktisch unbegrenzt leben. Fast niemand mehr stirbt eines natürlichen Todes. Auf diesem Planeten ist das Kinderkriegen strengstens verboten, denn ist doch logisch: Wenn niemand mehr stirbt, darf auch niemand mehr geboren werden. Sonst wird’s nämlich bald eng.

Und dasselbe gilt eben auch relativ: Je später die Menschen sterben, desto niedriger muss die Geburtenrate sein, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Generationen zu haben. Die längere Lebenserwartung der entwickelten Industriegesellschaften ist eine ihrer größten Errungenschaften. Sie bedeutet, dass fast alle Menschen, die geboren werden, auch alt werden. Und zwar allermeistens in guter körperlicher Verfassung.

Dass in solchen Gesellschaften die Geburtenrate viel niedriger ist als solchen mit niedriger Lebenserwartung, ist eine mathematische Notwendigkeit. Aber es ist, bei aller Liebe, keine Nachricht. Und schon gar kein Skandal.

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MaKu

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Judith Innreither

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