Es ist schon verdreht. Seit Jahren schreibe ich über die Unzulänglichkeiten unserer politischen und gesellschaftlichen Institutionen (Rechtsstaat, Parteienpolitik), gerade auch mit feministischem Blick. Und dann macht es KLICK und plötzlich scheint niemand mehr an die Integrationskraft demokratischer Verfahren zu glauben. Und ich finde mich plötzlich in der Rolle des Fans wieder.
Seit den Silvester-Übergriffen in Köln wird diskutiert, ob die deutsche Gesellschaft noch funktioniert. Ob man sich auf Politik, Medien, Polizei und Justiz überhaupt verlassen kann. Es geht dabei nicht nur darum (was völlig berechtigt wäre), Kritik an einem oder dem anderen Punkt zu üben – dass zum Beispiel am Kölner Hauptbahnhof an Silvester zu wenig Polizei vor Ort war oder dass einzelne Medien die Bedeutung dessen, was dort passiert ist, anfangs falsch eingeschätzt haben. Sondern es wird aus solchen Fehlern eine prinzipielle Sache gemacht.
Wenn als Gefahr heraufbeschworen wird, dass jetzt so viele Menschen mit „anderen kulturellen Hintergründen“ nach Europa kommen, Menschen mit anderen Religionen, anderen Familienstrukturen und anderen Vorstellungen vom Verhältnis der Geschlechter, was auch immer – dann frage ich mich: Ja, und wenn schon? Genau für solche Situationen haben wir in Europa doch die „Demokratie“ entwickelt.
Demokratie ist eine Verfahrensweise, in der aus einer Vielfalt von Stimmen politische Entscheidungsprozesse hervorgehen, bei denen am Ende herauskommt, was gemacht wird. Genau das ist es doch (zumindest bildete ich mir das bisher ein), was unsere Demokratie von den Diktaturen dieser Welt unterscheidet. Wir haben offene Medien, ein öffentliches Bildungssystem, eine breite Parteienlandschaft, Parlamente und eine unabhängige Justiz. Also eine differenzierte Palette von gesellschaftlichen Institutionen, die dafür sorgen, dass kulturelle Differenzen öffentlich verhandelt und politisch diskutiert werden, dass verbindliche Normen gesetzlich festgelegt und Übertretungen geahndet werden.
Für viele Flüchtlinge ist übrigens genau das einer der Gründe, warum sie nach Europa wollen. Sie sehen klar den Vorteil, den ein solches demokratisches Verfahren hat im Vergleich zu den Diktaturen in Herkunftsländern. Viele Einheimische hingegen scheinen inzwischen der Auffassung zu sein, dass kulturelle Differenzen nur per Machtwort entschieden werden können, und nicht demokratisch und plural verhandelt. Sie tun so, als sei Demokratie nur etwas für Bevölkerungen, bei denen ohnehin alle mehr oder weniger derselben Meinung sind und dieselben Lebensgewohnheiten haben. Als sei es unserem Rechtsstaat prinzipiell unmöglich, effektiv zu handeln.
Aber das stimmt eben nicht. Es ist im Prinzip alles geregelt: Es ist geregelt, was erlaubt ist und was verboten, was politisch veränderbar ist und was nicht, wer auf welche Weise politisch mitbestimmen kann. Da gibt es sicher im Detail Probleme, da hapert es zuweilen an der Umsetzung, da gibt es auch im Alltag Konflikte und es läuft nicht immer alles rund. Aber im Prinzip ist es geregelt.
Demokratie ist keine Frage von Kultur, sondern ein politisches Verfahren. Ebenso wie Diktatur keine Frage von Kultur ist, sondern eine Ausformung politischer Herrschaft. Menschen jeglicher kultureller Hintergründe können ihre Differenzen untereinander demokratisch aushandeln, allerdings nur, wenn sie daran glauben, dass Demokratie etwas Gutes ist und funktionieren kann. Aber genau das scheinen leider immer weniger Europäer und Europäerinnen zu tun.
Die Krise, die wir zurzeit haben, ist keine Flüchtlingskrise. Es ist eine Krise der europäischen Demokratie, die selber nicht mehr an sich glaubt. Die offenbar der Ansicht ist, sie könne nur funktionieren, wenn das Geld in Strömen fließt und alle mehr oder weniger sowieso dasselbe wollen. Der Wert einer politischen Kultur erweist sich aber nicht in rosigen Zeiten. Sondern erst in Zeiten, in denen es tatsächlich Herausforderungen zu bewältigen gibt.