Von Krankheiten und Gesundheiten

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“ – so lautet der berühmte erste Satz aus Tolstois Roman Anna Karenina.

Etwas Ähnliches ließe sich auch über Krankheiten sagen. Offenbar gibt es unendlich viele Weisen, krank zu sein: Man kann Grippe haben oder ein gebrochenes Bein, einen verdorbenen Magen oder erhöhten Blutdruck, eine Querschnittslähmung oder Zahnschmerzen. Aber anscheinend gibt es nur eine Gesundheit.

Eine Freundin von mir, Ina Praetorius, hat mal vorgeschlagen, das nicht einfach so stehen zu lassen, sondern bewusst auch über Gesundheiten – im Plural – nachzudenken. Also nicht nur zu fragen: Was für Krankheiten habe ich? Sondern auch wahrzunehmen: Welche Gesundheiten habe ich?

Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens.“ Doch wer kann das denn wirklich von sich behaupten? Würde diese Definition zutreffen, wäre ja niemand jemals ganz gesund.

Zwischen den beiden Polen „richtig gesund“ und „richtig krank“ existiert in Wirklichkeit eine Skala fließender Übergänge. An manchen Tagen fühle ich mich stark wie ein Ochse und könnte Bäume ausreißen. An anderen Tagen bin ich lustlos und duddele unproduktiv vor mich hin, aber kein Arzt würde mich dafür krankschreiben. Manchmal bin ich auch „richtig“ krank, etwa mit einer Erkältung, aber deshalb noch keineswegs unfähig, irgendetwas zu tun.

Das heißt, ich bin zwar ein krank, aber ich bin gleichzeitig auch gesund. Zum Beispiel weil meine Verdauung optimal funktioniert, während ich gleichzeitig Kopfschmerzen habe. Oder weil mein Kopf klar ist, obwohl ich mir das Bein gebrochen habe.

Leider haben wir für all diese Zwischentöne keine Sprache. Wir haben uns angewöhnt, eine klare Trennung zu ziehen zwischen den beiden Zuständen krank und gesund. Das ist auch eine Folge der industriellen Logik: Ob ich krank oder gesund bin (und nur eines von beidem kann zutreffen) entscheidet darüber, ob ich zur Arbeit muss oder nicht. Entscheidend ist der Stempel vom Arzt.

Der „normale“ Mensch ist gesund, wer krank ist, gilt als „defizitär“. Krank zu sein, also nicht hundertprozentig gesund, ist eine Abweichung von der Norm, die möglichst umgehend behoben werden muss. Und wehe, sie kann nicht behoben werden, dann hat man nämlich für den Rest des Lebens den Stempel „behindert“ weg.

Gerade in einer älter werdenden Gesellschaft ist das aber kein funktionierendes Konzept mehr. Je älter wir werden, desto größer ist ja die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwas an unserem Körper nicht mehr normgemäß funktioniert. Dass die Muskeln schwächer werden, die Kondition abnimmt, wir nicht mehr gut hören und sehen. Und so weiter.

Mir ist aufgefallen, dass ältere Menschen auf die Frage, wie es ihnen geht, häufig antworten: „Den Umständen entsprechend.“ Damit wollen sie sagen, dass sie zwar nicht „gesund“ sind, aber auch nicht „krank“, weil das, was bei ihnen körperlich nicht gut funktioniert, realistischerweise nicht mehr geheilt werden kann. Sie wissen, dass sie nie mehr „gesund“ werden im Sinne der 100-prozentigen Fitness, als die wir es derzeit definieren.

Was für eine traurige Sicht auf die Dinge. Es wäre doch viel besser, wir hätten mehr Gespür nicht nur für unsere Krankheiten, sondern auch für unsere Gesundheiten – und vor allem auch für die Gesundheiten der anderen.

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