Deutsche Demonstrant_innen blockierten einen Bus voller Flüchtlinge. Da trifft deutsches Elend auf das Elend des Krieges – in persona. Und die Berufspolitik gibt sich scheinheilig empört.
Angeblich “eskalierte” die Lage und - Überraschung! - die Flüchtlinge wären daran schuld gewesen. Auffällig ist dabei nur, dass die Bundespolizei zugab: Der Kollege, der den Jungen aufs Grobste ins Heim zerrte, wäre einer von ihnen gewesen. Der Innen-Sachse Markus Ulbig erkennt sogar die "eindeutige Sprache" der Videos zu diesem Fall. Für mich als Österreicher erstaunlich offen: Bei uns würden sich die verantwortlichen Politiker_innen winden wie die Würmer.
Verständnisschwierigkeiten
Das Geschehen ist allerdings verständlich – großteils. Die Flüchtlinge haben einen Stress, weil sie nicht wissen, ob der Mob vor dem Bus sie lynchen wolle (in dem Kriegsgebiet, dem sie entflohen, wäre das immerhin möglich gewesen). Die Polizei hat Stress, die Situation in Griff und die Asylwerber in Sicherheit zu bringen. Da kann's schon passieren, dass ein undisziplinierter, überforderter Beamter einen Jungen, der panische Angst davor hat, auszusteigen, kurzentschlossen mit Gewalt weiterbefördert. Die Schuldfrage sollte man keinem von beiden stellen.
Und den Demonstrant_innen? Was haben die für einen Stress? Das wäre die interessantere Frage. Sie stehen freiwillig vor der Flüchtlingsunterkunft, haben keinen Krieg erlebt, wurden nicht vertrieben. Sie müssen in ihrer Arbeitszeit keine wütendenden Unmenschen davon abhalten, das Asyl-Recht anderer zu verletzten. Kann ihr friedliches Leben in Sachsen, Deutschland, Europa so viel unnötige, fehlgeleitete Wut erzeugen?
Globalisierte Sinnentleerung voller Hosen
Offenbar schon. Auch die Wut dieser rechten Pegidiotinnen und AfDeppen kommt irgendwo her. Krieg, Trauma und Armut als Ursachen für Konfliktpotenzial und Gewalt sind leicht nachzuvollziehen. Was diese radikalen Bewohner_innen des reichen EU-Friedensprojekt antreibt, erscheint komplizierter. Es ist sicher nicht bloße Langeweile.
Spätestens seit den Achtzigern wurden die Mitglieder unserer Gesellschaften von Bürger_innen in Konsument_innen verwandelt. Der so genannte "Neoliberalismus" - der wie der "Konservativismus" letztlich das Gegenteil von sich ist - macht steuerbefreite Großkonzerne, die ihr Wachstum teilweise nur noch durch Betrug, Ausbeutung und Krieg steigern können, zu heimlichen Mitregierenden. Spielsüchtige Banken, die, dank EU-Verträgen, wie Parasiten an der Euro-Zentralbank hängen und uns unsere eigene Währung teuer "leihen", ohne dafür etwas zu leisten, werden "systemrelevant".
Vermarktete Gesellschaft
Die Bürger_innen dieser wachstumspotenten Plutokratie haben hingegen immer weniger mitzubestimmen. Sie sind nicht einmal dann systemrelevant, wenn sie zu den kleinen Mitessern des Systems gehören; eines Systems, das den Sinn und Wert des Menschenlebens in Frage stellt - umso lauter, wenn man zu seinen Verlierer_innen gehört. Die Konsument_innen werden selbst zu Teilen des Marktes, zu Gütern, mit deren Daten sowohl die Berufspolitik als auch Unternehmen spekulieren und handeln. Jede politische Entscheidung wird der Funktionalität der (auch politischen) Märkte untergeordnet, selbst wenn diese offensichtlich nicht funktionieren - wenn Geld und Politik zum Selbstzweck wird.
Das wissen viele. Das spüren alle - nicht weniger im deutschen Lohndumping-Wunderland. Das macht zu Recht wütend. Die blinde Wut richten sich leider gegen die Falschen. Vielleicht auch, weil man nicht die Hand beißen will, die einen immer noch füttert. Also beißt man die Nächstschwachen. Die Gesellschaft der Vermarkteten ist auch eine der Feiglinge - Produkte einer Weltpolitik des entleerten Sinns und der vollen Hosen.
Zynismus ohne Satire
Dass man nun jene Flüchtlinge von Clausnitz wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt anzeigen will, ist genauso zynisch wie ein Heimleiter, der AfD-Mitglied ist und Hetze mit Nachnamen heißt. Das ist selbst für Satire zu irre. Es ist aber auch ein peinlicher Ausdruck von Hilflosigkeit. Die so genannte Staatsgewalt geht vor dem Hobbypöbel in die Knie. Die Furcht vor wütendenden Bürger_innen ließ die Beamten wüten: Ein unbeabsichtigtes Eingeständnis polizeilicher Inkompetenz. Zugleich eine Wahrheit, der wir uns alle stellen müssen: Die Rechte von rechten Wähler_innen und Konsument_innen werden gewahrt, wo diese nicht gefährdet sind. Damit stellt man sie sich gut und ruhig, ohne etwas dafür tun zu müssen. Billig-Politik. Man umschmeichelt sie wie Kleinkinder, die zwar etwas Schlimmes angestellt haben... Aber was soll man von den Depperln erwarten? Doch keine Verantwortung, keinen Anstand?! Die rechten Denker haben mit der "Infantilisierung der Gesellschaft" nicht ganz unrecht.
Mensch als Ware
Von Flüchtlingen kann man augenscheinlich nicht profitieren. Deshalb gewährt man ihnen nicht einmal Respekt und Höflichkeit. Wenn Linke eine Straßenblockade machen, regenet es sehr schnell Pfefferwasser. Umweltschützer und Anarchistinnen gelten dem System als Ausschußware und Risikofaktor. Die Deutschen und die Flüchtlinge werden von den Mächtigen gleichermaßen wie Waren betrachtet. Das einzige, das beide vor dem menschlichen Ausverkauf schützt, ist – in diesem Fall – das deutsche Grundgesetz. Greift “das Volk” das Recht auf Asyl an, das in Deutschland im Verfassungsrang steht, greift es das eigene Grundgesetz und damit sich selbst an.
Unsere Schande
“Ihr seid nicht das Volk. Ihr seid eine Schande.”, las ich irgendwo. Aber ein Teil des Volkes sind die Demonstrant_innen von Clausnitz durchaus. Eine Schande ebenso. Unser aller Schande. Unsere Großeltern, Eltern und wir selbst haben der politischen Entwicklung lange genug zugeschaut, die den Fall Clausnitz ermöglichte. Wir haben unsere Demokratien vernachlässigt. Jetzt sitzen in allen Vorstädten und Kleingärten antidemokratische Staatsfeinde, die selbst nicht begreifen, was sie sind. Das ist Selbstentfremdung durch die Angst vor den/dem Fremden. Das ist eine bürgliche Gefahr für das Bürgertum. Und völlig unnötig.