Es hat etwas ziemlich Trostloses, an einem späten Januarnachmittag eine dieser Wirkungsstätten zu besuchen, ein Kulturzentrum mit Veranstaltungs- und Büroräumen. Mein Bekannter, dessen andere Geschäftsverbindung sich gerade aufgelöst hat, hat sich dort eingemietet und wollte mir sein neues Umfeld zeigen. Das ist die Anziehungskraft von solchen Zentren, die sie mit Coworking-Spaces und Gemeinschaftsbüros teilen: man hat das Gefühl, irgendwo dazuzugehören, Teil einer Gemeinschaft zu sein, hat einen Platz, an den man gehen kann. Auf jeden, der dieses Gefühl nicht teilt, wirkt der späte Nachmittag dort noch grauer, der Winter noch kälter und die grauen und schwarzen Pullover der bürogemeinschaftlichen Einzelkämpfer noch dunkler.
Doch während in Coworking-Spaces und zu Gemeinschaftsbüros umfunktionierten alten Wohnungen Freiberufler sitzen, meistens Grafikdesigner und Architekten, die ihr Geld am freien Markt verdienen, beherbergen diese Kulturzentren vor allem Leute, die "richtige und wichtige" Projekte betreiben, also außer Künstlern vorwiegend Leute, die von der Veranstaltung sozialer Projekte finanziert durch staatliche Fördertöpfe leben. Einer davon redet mit mir so, als wäre ich in einem seiner Projekte und er führte mit mir ein förderndes Gespräch. Er hat früher an der Uni gearbeitet, aber dort gekündigt. So ist das bei den Meisten dort: sie wollten von irgendwas weg - einem schlechten Chef, einer sinnlosen Aufgabe, unmöglichen Arbeitszeiten - und hangeln sich nun von Projekt zu Projekt. Jedes neue Projekt, das man sich ausdenkt, könnte der Durchbruch sein, die wegweisende Idee, die Tür zu etwas Größerem. Und auch an diesem kalten, dunklen Winternachmittag erblickte die Idee zu einem neuen Projekt das Licht der Welt, die von allen Anwesenden so begeistert aufgenommen wurde, als hätte man gerade ein Heilmittel gegen Krebs entdeckt.
Die wegweisende Idee kam von einem wegweisenden Buch, wodurch sie erstens gegen Kritik geschützt ist und zweitens ein wenig indirekte Marketingunterstützung erhält. Es handelt sich, nicht lachen, um Richard David Prechts "Von der Pflicht", dessen Titel für jeden halbwegs gebildeten Menschen ein Abklatsch auf die großen Ideen des 18. und 19. Jahrhunderts ist. Die Hauptidee des Buches, so der Ideengeber und Projektveranstalter, wäre, dass die Menschen "immer weniger Steuern zahlen wollen" (eine Aussage, die natürlich absichtlich so klingt, als würden die Menschen tatsächlich immer weniger Steuern zahlen, aber bewusst die Tatsache offenlässt, ob dies stimmt, und ob die Steuerlast sinkt oder steigt), aber "immer mehr verlangen" würden. Ein Pflichtjahr wäre die Lösung, weil "die Gesellschaft" sonst "einfach auseinanderbricht".
Vielleicht ist es die Strategie solcher Argumentationen, so viele falsche und verdrehte Aussagen zu enthalten, dass man gar nicht mehr hinterherkommt, alle zu widerlegen. Die meisten hängen, so wie ich, schon an der Aussage mit den Steuern fest, bei der sich auch die Frage stellt, ob die Lust, Steuern zu zahlen, vielleicht damit zusammenhängt, was und was nicht mit diesen Steuern finanziert wird. Zur Aussage, dass die Gesellschaft ohne ein Pflichtjahr zusammenbricht, fällt mir ein Internetnutzer ein, der als Kommentar zum ideengebenden Buch das Gedicht "Die Lösung" von Bertold Brecht zitierte. Außerdem wird in dieser Argumentation, wie so oft, "Gesellschaft" mit "Staat" verwechselt, oder noch schlimmer, auch noch mit "Regierung".
Das entscheidende Schwurbelargument, und der Hauptgrund, weshalb so Viele dieser Argumentation trotzdem zustimmen würden, zielt jedoch auf Folgendes: Viele haben das Gefühl, dass das mit dem "immer mehr verlangen und dafür immer weniger leisten wollen" irgendwie stimmt. Und das liegt nicht nur daran, dass jetzt Viele merken, dass vielleicht doch ein wenig zu viel Kohle für die Coronamaßnahmen rausgehauen wurde. In der Gesellschaft herrscht eine Mentalität, in der alle einerseits auf irgendetwas zu warten scheinen, und andererseits sich nicht nur nicht selbst auf den Weg machen, sondern auch noch diejenigen, die ihnen Angebote machen, runterkrakeelen. Ein bisschen so, als würde man sich im Restaurant stundenlang vollfressen, aber glauben, man müsse die Rechnung nicht zahlen, weil einem die äußere Erscheinung des abrechnenden Kellners nicht passt. Damit ist kein bestimmtes politisches Thema gemeint, sondern eine Verweigerung des Selberdenkens und damit der Übernahme von Verantwortung für sich selbst und andere. Die Meisten glauben, dass irgendwann jemand kommt, der ihnen sagt, was richtig und was falsch ist. Eine höhere Institution, wie der Lions Club, der Rotary Club, die Freimaurer, der Bürgermeister oder das Arbeitsamt, vielleicht auch eine Versammlung der Milliardäre und sonstiger schlauer Menschen. Diese Mentalität ist kaum zu übersehen, auch nicht für die, die sie teilen. Also hat der Precht Recht, irgendwie, denken sie.
Vielleicht kommt die Trostlosigkeit auch nicht von der Kälte, der Dunkelheit oder den Pullovern. Sie kommt von der Präsenz dieses Hans-im-Glück-Gefühls, was dadurch entsteht, kurzfristige Unannehmlichkeiten gegen langfristige Nachteile einzutauschen. Durch die Entscheidung, seinen Job zu kündigen um von nun an zu einer Bürogemeinschaft mit Förderprojekten zu gehören. Oder die Entscheidung, wie alle auf irgendetwas zu warten, und irgendwann, in einer dystopischen Zukunft, zu den unfreiwilligen Teilnehmern allumfassender Förderprojekte zu zählen.