Um zu verstehen, wie die Mittelschicht nicht an, sondern mit Corona stirbt, kann man sich eine fiktive Firma vorstellen, in der typische Charaktere der Mittelschicht zusammenarbeiten.
An der Spitze dieser Firma, einem Familienunternehmen, steht die Senior-Chefin, deren Einstellung es ist, dass sie die Firma nur deshalb weiterführt, um den Angestellten deren Arbeitsplatz zu erhalten. Da sie den Mitarbeitern aus ihrer Sicht einen Gefallen tut, lehnt sie gewisse Verantwortlichkeiten ab. Dies äußert sich dadurch, dass sie den Konflikt mit sozial einflussreichen Mitarbeitern scheut und deren Akzeptanz sucht, die dadurch in der Firma Sonderrechte gegenüber Kollegen genießen, mit denen wiederum auch die Geschäftsleitung rücksichtslos umgeht.
Die Chefin ist in einer Zeit aufgewachsen, in der man zu einer anderen Schicht gehörte, wenn man ein paar Millionen mehr auf dem Konto hatte als andere. Sie nimmt gar nicht wahr, dass sich die gesellschaftlichen Realitäten insoweit verändert haben, dass nur noch die wenigen Superreichen sich wirklich "Oberschicht" nennen können, und die ehemals Privilegierten mit der Mittelschicht im selben Boot sitzen. Sie denkt, ihre Ablehnung von Verantwortung hätte ihren Ursrung in einer gewissen Distanzierung der Oberschicht von der Mittelschicht – dabei ist das Ablehnen von Verantwortung eines der typischen Merkmale der heutigen deutschen Mittelschicht, die sich ebenso nicht im Geringsten für politische, psychologische oder soziologische Themen, also die Grundlagen ihrer eigenen Lebenswelt, interessiert.
Beispielhaft dafür steht das Verhalten gegenüber Monika, Mitte fünfzig, Sachbearbeiterin, groß, schlank und modern angezogen, ein jugendlicher Typ der viel redet und lächelt, eloquent und schlau, aber nicht wirklich intelligent ist.
Monika ist in der DDR geboren und mit ihrem Mann und kleiner Tochter kurz nach dem Mauerfall sehr überstürzt in den Westen gezogen. Monika hat in der DDR studiert und danach in einer Behörde in der DDR gearbeitet. Sie sagt immer, dass sie über die DDR nichts schlechtes sagen könne und sehr gut gelebt habe. Ihr überstürzter Umzug passt nicht zu diesen Aussagen. Auf die Möglichkeit, dass sie Zuträgerin des Systems gewesen sein könnte, und sich nach dessen Zusammenbruch Sorgen über nun folgende Konsequenzen machte, kommt in der Firma niemand. Dass ihre Befürchtungen nicht zutreffen, hätte sie dann erst gemerkt, nachdem ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig zu machen war. Sie würde ihren Wegzug und aus unbegründeter Sorge einen guten Posten gegen einen ungeliebten Job getauscht zu haben bereuen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt würde sie nach einem Ausstieg, einer Chance für einen erneuten Aufstieg suchen. Sie lässt sich kurz nach der Volljährigkeit ihres Kindes scheiden, mit der Begründung, sie und ihr Mann hätten sich auseinandergelebt. Sehr kurz danach beginnt sie eine Beziehung zu einem liierten Mann, der ihr ein besseres Leben in Aussicht stellt, wenn sie ihn bis zur Realisierung seiner Pläne mit Geld unterstützt. Ein klassischer Heiratsschwindler. Eine kleinere Krise in ihrem Leben nutzt dieser Mann, um sich unverdächtig von ihr zu distanzieren. Nach diesem Ereignis erledigt sie ihre Arbeit nur noch widerwillig, erzeugt damit oft noch mehr Belastung für ihre direkten Kollegen. Nach massiven Konflikten mit der Geschäftsleitung sucht sich Monika schließlich einen anderen Job, den sie problemlos findet. Die Mittelschicht trägt solche Menschen über weite Strecken mit. Kaum jemand wird ihr Vorhaltungen machen, weil zwar viele ihr Verhalten bemerken, aber fast niemand - mangels Desinteresse - über die Informationen verfügt, die Gründe dafür zu benennen. Kein Motiv, keine Anklage.
In diesem Zustand des moralischen Verfalls trifft die Corona-Krise auf die Mittelschicht. Deren Reaktion auf die ersten Nachrichten über das Virus kann man mit dem Begriff erwartungsfroh beschreiben, zwar heimlich, aber eben nicht zu übersehen. Viele dachten am Anfang, die Krise dauere nicht lange und sahen darin eine kurze, einmalige Gelegenheit zur Durchsetzung eigener Interessen, wie die Reduzierung der eigenen Arbeitsleistung bei gleichbleibendem wirtschaftlichen Status, die folgenlose Überschreitung von Normen und Gesetzen oder auch nur die Aussetzung von ungeliebten gesellschaftlichen Verpflichtungen. Dem zugrunde liegt der Glaube, dass man aus einem System etwas herausnehmen kann, ohne ebenso viel hineinzutun, und dieses trotzdem stabil bleibt. Dass Strom in der Steckdose entsteht und Geld im Automaten. Sozusagen der German Dream.
Wie alle anderen Mitglieder der Mittelschicht nutzt auch die Chefin diese vermeintlich einmalige Gelegenheit, und fährt erwartungsfroh mit ihrer Familie zwei Wochen in den Urlaub in ein Risikogebiet, in dem Wissen, danach zwei weitere Wochen in Quarantäne zu müssen, in ihrem Fall gleichbedeutend mit dem Wegfall der Verpflichtung, sich im Bürogebäude blicken zu lassen. Sie bringen trotz normaler Arbeitsbelastung immer wieder das Thema Kurzarbeit zur Sprache. Und teilen jenen Mitarbeitern, mit den "Hygienemaßnahmen" als Begründung, die schlechte Arbeit zu, die sich bisher mit ihrer Weigerung, die eigentlich der Geschäftsleitung obliegende und von dieser abgelehnte Verantwortung zu übernehmen, zwischen sie und die Erfüllung ihrer eigenen Version des Deutschen Traums gestellt haben.
Doch während die Reaktion des Großteils der oberen und unteren Mittelschicht auf die sich plötzlich ergebenden Gelegenheiten noch relativ zaghaft war, gibt es auch Menschentypen, die den nächsten Schritt, quasi eine viel schlimmere Mutation, repräsentieren.
Eine davon ist Sylvia, die Hausmeisterin der Firma, Mitte fünfzig, geschieden, eine Tochter im Studium. Sie ist in zweiter Ehe mit einem Mann verheiratet, der ein erhebliches Vermögen geerbt hat und wegen chronischer Krankheit nicht mehr arbeitet. Dies übrigens ein weiteres Beispiel zwischen der kaum mehr vorhandenen Abgrenzung zwischen der Mittelschicht und dem, was früher Oberschicht hieß.
Etwa ein Drittel ihrer Arbeitszeit verbringt Sylvia damit, Kollegen anzusprechen und sich so lange wie möglich mit ihnen zu unterhalten. Sie steht buchstäblich ständig im Weg und stört durch lautes Reden und Lachen. Doch es geht ihr dabei nicht darum, im Mittelpunkt zu stehen, sondern darum, Chaos zu produzieren. Ihr großes Ziel, das sie erreichen will, aber auch wegen der drohenden Gefährdung ihrer Beziehung aufgrund eines zu unterschiedlichen Alltags erreichen muss, ist es, nicht mehr zu arbeiten.
Ihr Mann ermöglicht ihr zwar einen gewissen Luxus, aber er zögert, sie komplett zu finanzieren. Er hat ein Kind aus erster Ehe und will um seinetwillen nicht sein Vermögen auf diese Weise minimieren. Das einzige, das Sylvia ein Leben ohne Arbeit ermöglichen würde, wäre, wenn sie unverschuldet arbeitslos werden würde.
Aufgrund seiner unterdurchschnittlichen Intelligenz, über die sie sich oft scherzhaft beschwert, und die ihr in der Partnerschaft auch sonst mehr Nachteile als Vorteile bringt, nimmt ihr Mann an, dass sie gerne arbeiten würde.
Sylvia initiiert also wo es möglich ist Chaos, um irgendeine Katastrophe heraufzubeschwören. Sie erzählt neuen Kollegen Schauergeschichten von vorangegangenen Kündigungen und arbeitsrechtlichen Streitereien. Auf Kollegen, die bereits in einem Konflikt mit der Geschäftsleitung stecken, wirkt sie besonders ein, um diesen noch zu verschärfen. Jene Kollegen, die "den Laden am Laufen halten", versucht sie zu diskreditieren und zu behindern. Ungerechtigkeiten zwischen Kollegen versucht sie zu verstärken, Druck auf bereits angeschlagene Kollegen noch zu erhöhen. Ihr Ziel ist ein Ereignis, was zur Schließung der Firma oder ähnlichem führt. Eine reichlich unrealistische und vage Aussicht, aber ihre einzige. Bis zur Corona-Krise. Sie steht natürlich absolut hinter den Maßnahmen. Als sie realisiert, dass sich die von ihr erhoffte Änderung ihrer Lebensverhältnisse nicht einstellt, richtet sie ihre ganze Wut gegen die Gegner der Maßnahmen und die Impfkritiker.
Diese Mutation des deutschen Traums, der Glaube, ein System fast komplett zerstören und trotzdem noch davon profitieren zu können, gleicht dem Wahn eines verrückten Königs, der seinen gesamten Hofstaat hinrichten lässt und am Ende keinen mehr zum Ausführen seiner Befehle hat.
Jemand, der auf die – hauptsächlich wirtschaftlichen - negativen Auswirkungen der Maßnahmen von Anfang an hinweist, seine Sorgen um die Firma im Speziellen und die Wirtschaft im Allgemeinen kundtut, ist Herr Müller, leitender Angestellter, Ende fünfzig. Er und seine Frau sind ein paar Jahre nach der Wende von Ostdeutschland in den Westen gezogen. Herr Müller gönnt sich nicht viel, seine Kleidung besteht nur aus ein paar einfachen Basics, die zur Betonung seiner Fähigkeit zu Leistung und Entbehrung dienen.
Herr Müller und seine Frau haben eine Tochter im jugendlichen Alter. Seine Frau hat schon lange nicht mehr richtig gearbeitet. Wenn überhaupt, dann übt sie nur leichte Teilzeittätigkeiten aus. Ein Problem ist das für beide nicht. Schließlich ist sie wegen seiner Arbeit und nicht wegen ihrer mit ihm nach Westdeutschland gegangen. Seine Frau ist der kleine, zierliche, niedliche Typ. Während ihr Mann in der Firma ist, verbringt sie viel Zeit mit Joggen, wofür sie oft stundenlang über lange Strecken unterwegs ist. Der erste Zweck, den das Joggen erfüllt, ist das Gefühl, auch etwas zu "leisten".
Das Joggen dient aber noch einem anderen Zweck. Sie muss darauf achten, dass ihr Aussehen kindlich bleibt. Denn dieses Aussehen dient als glaubwürdige Referenz für die durch seine Vernachlässigung des gesellschaftlichen Bereiches notwendige moralische Rehabilitierung ihres Mannes, welche ihre Hauptaufgabe ist und die sie im Tausch gegen ihre Versorgung anbietet.
Nun hat es die Natur so eingerichtet, dass bei Untergewicht unter anderem der Sexualtrieb reduziert wird, denn es macht evolutionstechnisch wenig Sinn, in einer Mangelphase Nachkommen zu zeugen.
Um die fehlende Sexualität zu kompensieren, wendet Herr Müller sich Yvonne zu, mit der er oft lange und ausführlich redet, während eine Kollegin die Arbeit für sie mitmachen muss.
Yvonne ist Mitte vierzig, Sachbearbeiterin, geschieden, und hat zwei Töchter im jugendlichen Alter. Sie ist sehr hübsch, gepflegt und modisch gekleidet ohne überstylt zu sein.
Ihre durch sie eingereichte Scheidung endete in einem Rosenkrieg, mit dem sich ihr Exmann an ihr und den Kindern dafür rächte, dass sie sich getrennt hat. Sie begründet die Trennung damit, dass das Zusammenleben nicht mehr funktionierte, hat jedoch schon länger einen Wunschpartner, mit dem sie aber keine Beziehung führt. Ihr Wunschpartner hat eine andere Partnerin, von der er für den Erhalt seines hohen Status abhängig ist.
Nicht nur sie, sondern ihr relevantes Umfeld ist also konsequent egoistisch. Für sie gibt es keine feststehenden Werte. Als Kind bekam sie einerseits Reitstunden, andererseits hat ihr Vater oft in Doppelschichten für die Versorgung der Familie gearbeitet.
Sie hat von Anfang an versucht, in der Firma möglichst viele Fürsprecher zu finden, um ihr Gehalt mit wenig Aufwand zu beziehen. Sie redet täglich lange mit ihren diversen Kontakten, von denen sie jedem das Gefühl gibt, ihr bester Freund zu sein. Dabei sieht man, dass die Pflege ihrer etlichen Beziehungen Kraft kostet und für sie auch eine Art Arbeit ist. Für sie ist es existenziell wichtig, sich bei anderen Menschen beliebt zu machen; eine Eigenschaft, die sie ebenfalls in ihrer Kindheit vermittelt bekommen hat.
Da man sich in der Mittelschicht "nicht in die Familie einmischt", werden auch ihre Charakterzüge, die ihren Ursprung dort haben, nicht thematisiert.
Die Annäherung von Herrn Müller an Yvonne findet nicht gegen ihren Willen statt. Reichlich blöd und ungerecht gegenüber Dritten ist es natürlich trotzdem. Yvonne würde nie ein Verhältnis mit ihm anfangen, sondern will ihn lediglich als weiteren Fürsprecher. Trotzdem ist er überzeugt, dass seine Hoffnungen bald in Erfüllung gehen.
Als junger Erwachsener in der DDR hat er schnell gemerkt, dass seine Leistungsfähigkeit ihm gleichzeitig ein gutes Leben und moralische Rehabilitierung, die er von durch ihn unterstützten Personen wie seiner Frau und Yvonne erhält, ermöglicht. Er gehört zu den Menschen, die solche Regime wirtschaftlich aufrechterhalten. Sie werden oft mit dem Begriff Leistungsträger bezeichnet.
Während der Corona-Krise übertritt er demonstrativ von der Firma angeordnete Maßnahmen, um damit nochmals seine Leistungsfähig- und -willigkeit zu betonen. Darüber, dass dies für Kollegen, die sich an die Maßnahmen halten müssen, eine enorme Ungerechtigkeit darstellt, denkt er genausowenig nach wie darüber, dass sich seine verschiedenen Günstlinge miteinander gar nicht verstehen, oder darüber, welcher Art genau die Beziehung zu Yvonne sein soll. Das muss er auch nicht, denn seine Leistungsfähigkeit einerseits und die damit erkaufte moralische Rehabilitierung andererseits schützen ihn.
Dass er vermeintlich gegen die Maßnahmen ist, sich aber dennoch ohne Diskussion impfen lässt, ist nur scheinbar ein Widerspruch. Denn beides (die Impfung durch die Reduzierung von Problemen für seinen Arbeitgeber) demonstriert nach außen das, was er für seinen Sonderstatus zwingend aufrechterhalten muss: seine Leistungsfähigkeit.
Wenn man sich allerdings die von ihm benötigte Entourage, die dadurch gebundene Arbeitskraft und den angerichteten Schaden auf der anderen Seite ansieht, wird klar, dass man bei Leuten wie ihm wirklich nicht mehr von Leistungsträgern sprechen kann.
Zu seinen Freundinnen in der Firma gehört auch Vera, die ihrerseits eine Abneigung gegen Yvonne hegt.
Vera ist Sachbearbeiterin mit Teilzeitstelle, Anfang fünfzig mit einer akademischen Ausbildung, aus einer Akademikerfamilie stammend, verheiratet mit zwei Söhnen Anfang zwanzig. Sie ist modern, leger und unauffällig gekleidet, trägt eine Brille und kein Make-Up.
Vera meidet beinahe zwanghaft jeglichen Stress und Schwierigkeiten. Sie schafft es jahrelang, unter den Augen der Geschäftsleitung, mit Tricks und Dreistigkeit, den Arbeitsplatz mit der komplizierten, stressigen, undankbaren Arbeit zu meiden und den Platz mit der gleichmäßigen, effektiveren Arbeit zu besetzen. Trotzdem sich Vera dieser Ungerechtigkeit bewusst ist, hat sie sich eine Sichtweise zurechtgelegt, die, wie bei allen Menschen dieser Sorte, mit ziemlichem Realitätsverlust einhergeht. Für sie ist ihre Leistung größer, weil sie mit ihrer einfacheren Arbeit und ohne ständige Störungen eben mehr schafft. Eingehende Anrufe und andere Unterbrechungen, die mit der Arbeit auf dem anderen Platz einhergehen, sind für sie sinnlose Ablenkungen (was ja auch stimmt), die ein effizient arbeitender Mensch doch einfach meidet.
Vera ist mit der Zeit regelrecht süchtig nach der Abwesenheit von Stress geworden. Der Hormonmix, der dadurch entsteht, muss wohl fast so stark wirken wie körperfremde Suchtstoffe. Und wie andere Süchtige reagiert sie aggressiv, wenn sie ihr Suchtmittel nicht bekommt. Wenn sie planmäßig an dem ungeliebten Platz eingeteilt ist, bleibt sie mit großer Selbstbeherrschung äußerlich ruhig. Wenn sie jedoch einmal ungeplant dessen Aufgaben oder das Telefon übernehmen muss (also die Befriedigung ihrer Sucht erwartet aber nicht bekommt), gerät sie regelrecht außer sich, wird laut und rabiat. Und je weniger Stress sie hat, umso größer wird ihre Angst davor. Stressvermeidung erzeugt also ebenso Stress. So befindet sie sich in einem Zustand permanenter Alarmbereitschaft, auch wenn sie entspannt wirkt. Wie jeder Süchtige ist sie bereit, fast alles zu tun oder zu glauben um ihre Sucht zu befriedigen. Ihr Ruf, der Schaden, den sie bei den Kollegen anrichtet, etwaige Konsequenzen: das alles zählt nicht. Es zählt nur der Moment, der Tag, den sie erneut ohne die Beschäftigung mit den Aufgaben des ungeliebten Platzes hinter sich lassen kann. Und wie bei jedem Süchtigen gibt es bei ihr Momente der Reue, die aber niemals dafür ausreichen, dass sie künftig von ihrer Sucht ablässt.
Da die ständige Inanspruchnahme von Vorteilen dem Selbstbild als guter Mensch (das ebenfalls nur ein Weg ist, um sich auch zukünftig Vorteile zu sichern) entgegensteht, beschäftigt sie sich, genau wie eine bestimmte Schicht im polit-medialen Milieu, mit Scheinproblemen. Wie bei der Arbeit auf dem ruhigen Platz ist Vera auf diese Weise zwar beschäftigt, aber eben immer mit dem Leichten anstatt dem Schwierigen. Wenn sie von ihrem Mann und ihren Kindern erzählt, bekommt man den Eindruck, die Familie lebt in einer Sitcom. Wie in einer Sitcom ist ihr Leben scheinbar immer voller Herausforderungen, aber im Großen und Ganzen ohne echte Probleme.
Vera gehört zur Elterngeneration der heutigen Fridays-For-Future-Jugendlichen. Auch ihr Sohn war schon ein paarmal mit dabei, und seine Eltern hatten natürlich nichts dagegen.
Als Trump zum Präsidenten gewählt wird, ist sie zum erstem Mal wirklich erschüttert. Sie rechnet ganz einfach nicht damit, dass es ernstzunehmende Widerstände gibt gegen die mit der bestimmten polit-medialen Blase geteilten Erwartungshaltung, ein besserer Mensch zu sein und gleichzeitig ein besseres Leben führen zu können als andere. Mit der Corona-Krise macht sie nun endgültig die Erfahrung, dass diese beiden Dinge oft zusammen nicht realisierbar sind. Ihr wird, mit den "Hygienemaßnahmen" als Begründung, von der Geschäftsleitung der leichtere Arbeitsplatz fest zugeteilt. Sie steht mit entsetztem Gesicht aber sprachlos daneben, wenn Kollegen über Maßnahmengegner oder Impfskeptiker herziehen, obwohl dies allem widerspricht, für das sie zu stehen glaubt. Zugeben wird sie aber diesen Widerspruch nie, genausowenig wie die Akteure im entsprechenden polit-medialen Mileu.
Der Kollege, der von allen am wenigsten zur Mittelschicht passt, ist Daniel, Techniker, Anfang dreißig. Daniel ist groß und schlacksig, sieht durchschnittlich aus und trägt einfache Freizeitkleidung.
Er kommt aus dem urbanen und akademischen Umfeld, was in dieser Kombination der ausschließliche Lebensraum einer bestimmten Schicht ist, die sich woke nennt, und die sich nicht zur Mittelschicht gehörig sondern ihr überlegen fühlt. Der einzige Grund, weshalb er in die Mittelschicht gekommen ist, deren Mitglieder ihn nach ihrer eigenen, hauptsächlich wirtschaftlichen Definition als einen von ihnen sehen, ist die Tatsache, dass er zum woken Fußvolk gehört und die dadurch entstehende Notwendigkeit, bis zum erhofften Systemwechsel sein Geld wertschöpfend zu verdienen.
Mit vorsichtig zu behandelnden Personen redet er aufgesetzt bescheiden, mit den meisten jedoch in so selbstgefälligem Ton und mit so überlegenem Lächeln, als wäre er der neue Besitzer der Firma, der undercover unterwegs ist und kurz davor steht, sich zu erkennen zu geben. Nur dass das irgendwie nie passiert und auch der heißersehnte Systemwechsel bis jetzt noch nicht eingetreten ist. Aber dass er kommt, da ist sich Daniel sicher. Dieser Systemwechsel sieht jedoch nicht vor, dass alle so werden wie er, sondern dass Leute wie er nur mehr Macht haben. Leute wie er sind sich durchaus bewusst, dass Wertschöpfung nach wie vor betrieben werden muss. Aber das wollen eben nicht sie, sondern sollen andere machen, die sie anleiten, kontrollieren und zurechtweisen dürfen.
Daniel belehrt andere zum Thema Umweltschutz, den er selbst jedoch für sich passend interpretiert, macht antisemitsche Bemerkungen und bekundet unangemessen auffällig und hartnäckig sein Interesse an sichtlich nicht an ihm interessierten Kolleginnen.
Sein immer stärker werdender, durch die Corona-Krise noch zunehmender Größenwahn kommt nicht nur von dem Glauben an den baldigen Systemwechsel, sondern daher, dass er der einzige seiner Blase in der Firma, im ganzen Umkreis ist. Ähnlich wie der Einäugige unter Blinden ist nach seiner Auffassung der woke Laufbursche in der Mittelschicht König. Es ist kein Mensch für ihn relevant, solange dieser nicht woke ist und nach den Regeln dieser Blase lebt. Wer verstehen will, wieso diese sich "erwacht" nennt, sollte sich einen vereinzelten Woken innerhalb eines anderen Milieus anschauen.
Jedoch interessiert das die Mitglieder der Mittelschicht in der Firma, einschließlich der Geschäftsleitung, wie viele andere politische und gesellschaftliche Themen nicht.
Die Geschäftsleitung ignoriert seine Respektlosigkeiten auch ihnen gegenüber, weil sie sie vor sich selbst und anderen gar nicht erklären und begründen kann. Aus welchem Grund sollte ein dreißigjähriger Berufsanfänger mit der Geschäftleitung eines mittelständischen Familienunternehmens derart respektlos umgehen? Die Antwort auf diese Frage haben sie nicht. Sie lautet: Für ihn sind sie, nur weil er für sie arbeitet und sie um ein paar Millionen reicher sind als er, nicht höher gestellt. Sie sind für ihn Teil eines überholten Systems, von dem er glaubt, dass es sowieso bald zusammenbricht. Sie merken nicht, dass es Leute gibt, die, durch die Krise beschleunigt, ein neues System anstreben, in dem sie ihren Status verloren haben werden.
Trotz der in der Zwischenzeit deutlich gewordenen eigenen Fehleinschätzung über die Länge der Krise und trotz mittlerweile nicht mehr leugenbarer eigener Nachteile hält die obere und untere Mittelschicht immer noch an der Idee von der Unkaputtbarkeit des Systems, am Deutschen Traum, fest. Und dieser ist auch der Grund, wieso der Impfstreit in diesem Land besonders hart geführt wird. Es mag sein, dass der Glaube, man könne mehrheitlich auf Kosten eines Systems leben ohne es zu beschädigen, auch in anderen Ländern existiert, aber derart gefestigt gibt es ihn nur in Deutschland. Denn gerade in Westdeutschland ist die Erfahrung im kollektiven Unterbewusstsein gespeichert, dass man unermesslichen Schaden anrichten kann und – abgesehen von ein paar mageren Jahren – einem dadurch trotzdem keine Nachteile entstehen.
Der Deutsche Traum war schon ganz am Anfang der Corona-Krise das Problem, als die Mehrheit noch glaubte, alles wäre ein großes Abenteuer, aus dem man sich Vorteile ziehen könnte. Die Äußerung Karl Lauterbachs Anfang 2022, dass "wir" seit "zwei Jahren" große Rücksicht auf Ungeimpfte nehmen würden, spricht Bände, und zwar nicht nur über ihn persönlich. Die Tatsache, dass es zu diesem Zeitpunkt noch längst keine Impfung gab, deutet noch auf etwas anderes: die weit verbreiteten Versuche, die schlechten Absichten der Leute, die aus der Corona-Krise Vorteile ziehen wollten, ins Gegenteil zu verkehren.
Auch als der erste Schock kam, die Erkenntnis, dass die Krankheit womöglich ernster ist als gedacht, spielte der Deutsche Traum noch die entscheidende Rolle. Denn Angst ist relativ und hängt davon ab, welche Nachteile man erwartet, wenn sie sich als unbegründet herausstellen sollte. Deshalb sagten die Leute nach der Impfung nicht "Ich bin geschützt." oder "Ich fühle mich jetzt sicherer.", sondern "Wir haben`s geschafft." oder "Wir sind durch.". Übersetzung: "Mit der Impfung zahlen wir unsere Schulden zurück und sind quitt."
Beim Impfstreit schließlich, genauer gesagt dem Streit, ob sich jeder impfen lassen muss oder nicht, spielt die Frage eine Rolle, ob die jeweils andere Seite den Deutschen Traum mit kleinerem Aufwand lebt als man selbst. Die Befürworter der Impfpflicht wären nicht so konsequent, und würde als Folge nicht so eine heftige Reaktion der Gegenseite ernten, wenn sie nicht glauben würden, dass die Impfverweigerer Vorteile hatten, ohne dafür die Kosten in Form der Impfung zu tragen – und damit nicht, wenn auch nur in relativ wenigen Fällen, auch noch recht hätten. Der gesamte Impfstreit wird also dadurch angefacht, dass man den Deutschen Traum nach wie vor für realistisch und realisierbar hält.
Der Deutsche Traum stirbt nicht durch Krisen. Jede neue Krise wird nach der Möglichkeit durchsucht, Vorteile aus ihr zu ziehen. Der Deutsche Traum wird erst dann nicht mehr geträumt werden, wenn jedem klar ist, dass er nicht mehr bezahlbar ist, nicht nur für einen selbst, sondern auch für alle anderen.