Der 26. Oktober steht im Zeichen der Neutralität Österreichs. 2015 hat die Bundesrepublik Österreich am Nationalfeiertag die religiös-weltanschauliche Neutralität nicht bewiesen. Die Angelobung neuer Rekruten und Rekrutinnen am Wiener Heldenplatz sollte vermutliche ein Zeichen der interkonfessionellen Toleranz setzen, bewies aber wieder mal mehr die enge Verflechtung von religiösen und politischen Interessen. Neben den Militärseelsorgern der katholischen, evangelische wie orthodoxen Kirche ist nun seit einem Jahr auch offiziell ein Imam im Feld. Das macht Religion wieder und weiterhin zum Bestandteil staatlicher Ordnung. Warum tut das Not?
Welche Aufgaben erfüllen die Militärseelsorger
Geistliche der Militärseelsorge sind Gesprächspartner für Lebens- und Glaubensfragen. So steht es offiziell geschrieben. 1956 beschloss der Ministerrat die Einrichtung der Militärseelsorge in der Zweiten Republik. Entnommen dem Online-Auftritt des Bundesheeres, folgen Auszüge zu den militärseelsorgerischen Aufgaben, wie es die jeweilige Konfession erachtet.
Der katholische Militärseelsorger
Die Eigenart und spezielle Anforderung des militärischen Dienstes wirft besondere Lebens- und Gewissensfragen auf. Zu deren Bewältigung bieten die Militärseelsorger die Botschaft des christlichen Glaubens und die seelsorgliche persönliche Hilfe an.
… Der Soldat betrachtet sich als Hüter und Schützer menschlicher Grundwerte in internationaler Verantwortung.
Der evangelische Militärseelsorger
Die Militärseelsorge versteht sich als zusätzliches kirchliches Angebot. Als Pfarrer fühlt er sich christlichen Grundsätzen mehr verpflichtet als Dienstgraden Militärseelsorge will Kirche unter den Soldaten konkret werden lassen.
… In der Alltäglichkeit des Dienstes verdichten sich Freuden, aber auch Sorgen und Nöte des Menschen. Er fragt nach Sinn und Bedeutung seines Lebens und seiner Arbeit mit den Kameraden und Vorgesetzten in hierarchisch geordneter Struktur. Es werden Fragen der Verunsicherung gestellt, besonders in einer Zeit ständiger Umgliederungen und struktureller Veränderungen, die vom politischen Willen abhängig sind.
Und er fragt nach Sinn und Bedeutung seines Lebens vor Gott in einer säkularen Umwelt. Seelsorgerliche Begleitung bedeutet Zuhören, Teilen, Beraten, Hoffnung zu geben. Ziel ist es dabei, dem Suchenden und Fragenden das Angebot einer christlichen Sichtweise anzubieten, das Antwort gibt und die Vielfältigkeit des Lebens begreifen lernt.
Der orthodoxe Militärseelsorger
Am 1. Juli 2011 wurde die Orthodoxe Militärseelsorge ins Leben gerufen. Damit hat man den kulturellen Veränderungen in Österreich und in Europa Rechnung getragen. Denn die Orthodoxen Christen werden in Österreich zahlenmäßig, wie auch kulturell immer bedeutender. Zu den Aufgaben der Orthodoxen Militärseelsorge gehören:
• Berufsethische Bildung, lebenskundlicher Unterricht
• Seelsorgerische Betreuung
• Beratung in Religionsfragen
• Beistand in persönlichen Krisensituationen
Der islamische Militärseelsorger
Was der Webadminstrator mit keinem Webspace für die islamische Militärseelsorge verabsäumt hat, lässt sich aus einem Paper von 2007 ableiten. Erstellt wurde es von Mouddar Khouja, damals persönlicher Referent des Präsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich.
Soldaten sind während des Militärdienstes besonderen Herausforderungen ausgesetzt und können in zunächst ungewohnte und möglicherweise stressvolle Lebenssituationen geraten, sodass sie eine besondere seelsorgerische Betreuung benötigen.
Über der genannten seelsorgerischen Betreuung als Angebot an den muslimischen Armeeangehörigen hinaus wird die Islamische Seelsorge einen Lebenskunde-Unterricht in regelmäßigen Abständen anbieten.
Muslime teilen mit den anderen Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen gemeinsame Norme und Werte. …
Die europäischen Muslime sind sich ihrer religiösen Identität als Muslime und ihrer gesellschaftlichen Identität als Europäer gleichermaßen bewusst. …
Die letzten beiden Absätze nennen zwei bedeutsame Punkte: die gemeinsamen Normen und Werte der Religionen und Weltanschauungen, sowie gesellschaftliche Identität. Der deutsche Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde sagt, der Staat schaffe keine Werte aus sich heraus. Er ist darauf angewiesen, dass Vertreter der verschiedenen Weltanschauungen diese Werte formulieren.
Religion & Werte
Diese Werte kann man als Kitt der gesellschaftlichen Ordnung erachten, des friedlichen Zusammenlebens; sie sind Teil dessen, was die Identität eines Individuums ausmacht. Religion wird verstanden als etwas Sinnstiftendes und Gemeinschaftsbildendes, den Menschen einen emotional verankerten Sinn ihres Tuns und Lebens zu erkennen geben und Ängste, Not und Gefahren zu bannen. Viele Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens teilen die verwandten monotheistischen Religionen und finden sich auch in anderen spirituellen Glaubensrichtungen.
Antworten finden
Aus den Zitaten der militärseelsorgerischen Aufgaben geht hervor: Sie sollen Antwort auf Lebens-, Glaubens,- Sinn- und Gewissensfragen geben. Deshalb sind sie da. Deshalb braucht das Militär sie. Glauben die Mitglieder der Staatsorgane denn, es aus sich heraus nicht geschafft zu haben, Sinn zu stiften? Und jene Werte zu vermitteln, auf denen auch die Europäische Union fußt, deren Mitglied Österreich ist Neutralität hin oder her. Unleugbar sind diese Werte wie Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte aus dem historisch verwurzelten, kulturellen Gedächtnis heraus entstanden. Und diese Werte wiederum sollte der Soldat mit seinem Leben verteidigen. Letztendlich hat der Militärseelsorger doch die Aufgabe, Soldaten in Krisensituationen beizustehen, religiöse Aussagen zu tätigen oder Antworten auf Fragen letzter Wahrheit zu geben.
Aufstand der Moderne ohne den Staat
Doch was Österreich mit dem Schritt geschaffen hat, ist keine Auszeichnung von Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit oder Solidarität. All jene, die ihre Weltanschauung keiner Religion unterordnen, sondern möglicherweise die Grundwerte aus sich heraus bereits leben, wer sorgt sich um deren Seelenheil? Wohin gehen Menschen heute, wenn sie Hilfe von außen suchen, um aus einer Lebenskrise hinaus zu finden: zu Ärzten, Psychotherapeuten, Lebens- und Sozialberatern. Die Angelegenheit zeigt auf, dass die Staatsorgane einer neuen Ordnung also Lebensweise hinterher hinken. Sie kommen dieser Freiheit nicht nach, eine Entwicklung, die dem Staat möglicherweise gar nicht lieb ist, denn Freiheit lässt sich nicht mehr einfach ordnen. Und die Zeiten, in denen Religion als Garant für Ordnung galt, sind vorbei, wenn es sie denn je gegeben hat. Interreligiöse Betreuung kann ein Weg sein, so der Religionswissenschaftler Wolfram Reiss von der Evanglisch-Theologischen Fakultät Wien.
Intellektuelle Regeneration der Politik
Wenn sich der Staat bei den Soldaten um ihr Gefühlsleben sorgt, warum beginnt die Fürsorge nicht eher? Im Unterrichten der Schulkinder in Ethik etwa, Konfliktmanagement und Umgang mit Gefühlen. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk meint: Sollte es je zu einer intellektuellen Regeneration des politischen Liberalismus kommen, sie müsste von der Erkenntnis ausgehen, dass Menschen nicht nur habenwollende, giergetriebene, süchtige und brauchende Wesen sind, die freie Bahn für ihre Mangelgefühle und ihren Machthunger fordern. Sie tragen ebenso das Potential zu gebenwollendem, großzügigem und souveränem Verhalten in sich.
Mutig neue Wege beschreiten
Der Staat entferne die Gesellschaft, den Einzelnen vom vornehmen Pol der menschlichen Möglichkeiten, so Sloterdijk. Daweil ist eine andere Ordnung möglich. Der Wille fehlt und Mut. So gehen die ausführenden staatlichen Organe im Glauben andernfalls eine Respektlosigkeit den Religionen gegenüber zu begehen, lieber einen Schritt weg von Modernität. Selbst Annette Schavan, deutsche Vatikan-Botschafterin, erachtet Säkularisierung als eine kulturelle Errungenschaft, denn der Staat schafft dabei ja Religion nicht ab. Religion wird in den Bereich der Gesellschaft verwiesen, ohne Bestandteil der staatlichen Ordnung zu sein, zitiert sie Böckenförde auf ZEIT ONLINE. Hier schlage die Geburtsstunde des modernen Staates, der sich nicht über Religion definiere.
Die Regierung stolpert über viele Zeichen der Zeit. So gib den Menschen doch das, was der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf als sense of belonging nennt: das Zugehörigkeitsgefühl. Hierzu können viele Faktoren beitragen: gemeinsame Sprache, gemeinsame Geschichte, erfolgreiche Politik, die Fußballnationalmannschaft. Letztere konnte sich mausern und trägt ihren Teil dazu bei. Nun sind die Politiker an der Reihe.
Abgesehen davon, um auch die Religionsgemeinschaften in Pflicht zu nehmen: Sollten Religionen nicht streng pazifistisch eingestellt sein?