Zwischen Himmel und Herrschaft – Ein Projekt in Kapiteln

KAPITEL 2 – VON DER WÜRDE DES MENSCHEN (ODER: WAS IST DER MENSCH WERT?)

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

So beginnt das Grundgesetz – und kaum ein Satz ist so identitätsstiftend für das moderne Selbstverständnis.

Doch was bedeutet „Würde“ – und woher stammt sie eigentlich?

In den frühesten überlieferten Texten ist von einer solchen Vorstellung nichts zu finden.

Ob in der sumerischen Atrahasis-Erzählung, dem babylonischen Enuma Elish oder der Genesis:

Der Mensch ist dort kein freies, würdebegabtes Wesen, sondern ein Werkzeug.

Er wird geschaffen, weil die „Götter“ überlastet sind. Die niederen Götter (Igigi) weigern sich zu arbeiten, also erschafft man ein neues Wesen – den Menschen –, um ihnen die Last abzunehmen.

In Atrahasis heißt es: „Auf den Menschen soll die Arbeit der Götter gelegt werden.“

Im Enuma Elish: „Damit die Götter ruhen können, erschuf Marduk den Menschen.“

Und in Genesis 2: „YHWH Elohim setzte den Menschen in den Garten Eden, damit er ihn bearbeite und bewahre“ – hebräisch la‘avod u’leshamer, wörtlich: „dienen und bewachen“.

Das Bild ist eindeutig:

Der Mensch wird nicht als Selbstzweck, sondern als Diener, Verwalter, Arbeitseinheit erschaffen.

Sein „Wert“ besteht darin, brauchbar zu sein.

Aber was ist dann mit dem berühmten Satz aus Genesis 1:28?

„Seid fruchtbar und mehret euch, füllet die Erde und macht sie euch untertan; und herrscht über die Fische im Meer, über die Vögel des Himmels und über alles Getier, das auf der Erde kriecht.“

Klingt das nicht nach Würde? Nach Königsherrschaft über die Schöpfung?

Nur auf den ersten Blick.

Denn wer genau liest, erkennt:

Dieser Auftrag stammt aus einer anderen Erzähltradition als Genesis 2.

Er passt besser zu späteren Königs- oder Priesterideologien, in denen bestimmte Menschen (nicht alle!) als Stellvertreter göttlicher Macht auftreten.

Es ist ein Leitungskonzept, kein Menschenrecht.

Das einfache Individuum – der gemeine Mensch – ist in diesen alten Texten keine selbstbestimmte Entität mit Würde, sondern eine Figur im kosmischen Verwaltungsplan.

Die Vorstellung, dass jeder Mensch einen unantastbaren Wert habe, unabhängig von Herkunft, Leistung oder göttlichem Auftrag, ist ein spätes Ideal – geboren im Spannungsfeld von Aufklärung, Trauma, Religion und Protest.

Was bedeutet das für uns?

Die „Würde des Menschen“ ist kein Geschenk der Götter.

Sie ist auch kein kosmischer Grundsatz.

Sie ist eine menschliche Behauptung – ein zivilisatorischer Akt, der gegen den Strom uralter Hierarchien schwimmt.

Und gerade deshalb ist sie so kostbar.

Denn sie steht nicht am Anfang der Geschichte – sondern vielleicht am Anfang einer besseren.

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