was ich an einem Ort erlebte, an den zu gehen ich mich bisher nicht getraut hatte

Auf Besuch im Smart Café: ein Einblick ins Wiener Milieu.

Eine "alte" Bekannte mit latentem Hang zu "BDSM" und einem Faible für alles, was der "Otto Normal Verbraucher" als obszön und sittenwidrig bezeichnen würde, berichtete mir erst kürzlich von eben jenem Café in Nähe des Wiener Naschmarkts, auf das ich mich soeben, nach raschem Überqueren der schmalen Fahrspur, hin zu bewege. Gleich wird es also so weit sein und ich würde zum ersten Mal das schwarze und enge Entrée durchschreiten und jenen Ort betreten, der die Fantasien so mancher E.L. James-Leser wahr werden lässt. Just in jenem Moment, als ich den ersten Schritt in Richtung Eingang setzte und die schwere Klinke hinter mir schließe, wird mir jedoch schnell klar, dass dieses sogenannte "Café" nicht viel mit dem, von der frustrierten Hausfrau, mit Hang zur Erotik, verfassten 21st Century Märchen "Fifty Shades of Grey" gemeinsam hat. Das Smart Café in Wien ist echt und hier wird nichts schön gezeichnet- es wäre auch gar nicht möglich. Schon beim ersten Rundumblick fallen mir sprichwörtlich die Schuppen von den Augen und so versuche ich mich schließlich mit dem Anblick anzufreunden, den ich soeben geboten bekomme: ein stählerner Käfig gleich links neben der steilen Treppe, der mir beim Herabsteigen dieser nur knapp entgangen wäre, hölzern vertäfelte Flatscreens, auf denen die aktuellen SM-Video Channels rauf und runter angesehen werden und jede Menge Gestalten ( Anm.: Altwienerisch für zwielichtige Kreaturen, die man ansonsten nur in den Nachtetablissements der äußeren Randbezirke antrifft), deren Anwesenheitsmotiven ich nun gleich bei kulinarischer Untermalung auf den Grund zu gehen versuchen werde.

Ich entscheide mich für den Hochtisch in der Mitte, den ich dank seines ausgezeichneten Rundumblicks als genau richtig für meine Mission erachte und frage der Höflichkeit halber den dort ansässigen Mitt-Fünfziger F mit dem welken Haar, ob der ohnehin unbesetzte Platz denn noch frei wäre. Daraufhin weist mich dieser an, Platz zu nehmen. Nach einem flüchtigen Blick auf die Speisekarte, entscheide ich mich, nach kurzen Ringen mit mir selbst gegen das Alt-Wiener Fiakergulasch und den Tee mit Schlägen und statt dessen für die Wachauer Marillenknödel (Anm.: österr. Für Klöße) und die Weinschorle mit Holundersirup im Hundenapf.

Die Lokalität ist gut gefüllt und bevor ich noch die Zeit dazu finde, mir möglichst unbemerkt Notizen zu dem, für mich so neuartigem Treiben, zu machen, beginnt der neugierige Tischnachbar auch schon mich mit Fragen zu durchlöchern, sodass es kein Halt mehr gibt und ich mich genötigt fühle, dem aufmüpfigen Unbekannten Rede und Antwort zu stehen, als ich erneut an die pseudo-SM Trilogie von E.L. James denken muss.

Es ist die Szene mit dem Safe Word, die mich zu meiner Überlegung bewegt und ich beschließe darauf, mir genau wie Anastasia einst, ein solches zurecht zu legen, dass ich mir innerlich ins Gedächtnis rufen würde, wenn für mich die Grenze des erträglichen an privaten Auskünften überschritten wird und entscheide mich schließlich, als "Harry Potter" Fan der ersten Stunde für das Wort "Dementor". Die Kellnerin kommt im Latexoutfit herbeigeeilt, bringt dem Sitznachbar einen Gin Tonic im Plateauschuh, mir die Knödel, samt Weinschorle im Hundetrog und dann geht es auch schon los: mit dem forschen durchlöchert werden und den Fragen über Fragen und ich merke schnell: dieser Mann kennt keine Grenzen und er kennt keine Pardons. "Auf welcher Seite bist du? Bist du devot oder dominant?" Ich kratze mich kurz am Kopf, überlege schnell, bis ich schließlich zum Entschluss komme ihm die einfach die Wahrheit zu sagen. "Ich weiß es nicht." "Dementor!" rufe ich mir innerlich ins Gedächtnis, da für mich die Grenze des Erträglichen mit dieser Frage ausgereizt wurde. Ich empfinde sie geradezu als kränkend und je mehr ich darüber nachdenke, muss ich bemerken, wie wenig Gedanken ich mir bis jetzt zu dieser Frage gemacht habe und muss mir eingestehen, dass ich es nicht weiß. Ich will mich nicht festlegen und noch weniger in diesem für mich sehr intimen Moment. Ich erhebe mich vom Hochsitz, klemme meine Tasche unter den Arm, verabschiede mich höflich und bewege mich ohne zurückzublicken bei der Tür hinaus, wo helle Sonnenstrahlen mein Gesicht streifen und blenden. Ich atme tief ein und erleichtert aus. Ich fühle mich frei.

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Jessi

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Margaretha G

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fischundfleisch

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Barbara Schild

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