Unter "Lügen" können ganz unterschiedliche kommunikative Akte einsortiert werden. Das Philosophische Wörterbuch definiert "Lüge" als eine "auf Täuschung berechnete Aussage, die das verschweigt bzw. entstellt, was der Aussagende über den betreffenden Sachverhalt weiß bzw. anders weiß, als er sagt". Damit ist noch nichts über die moralische Bewertung gesagt. Zunächst ist die Lüge, auch die in der Politik, nicht mehr und nicht weniger als ein Sprechakt, ein Sprachspiel. Lügen kann sogar als eine "Kunst" bezeichnet werden.
Erst in einem zweiten Schritt stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Lügen zum Problem werden. Dabei spielt der Kontext der Lüge, in diesem Fall die Politik und die Demokratie, eine zentrale Rolle.
Blickt man auf die aktuellen Debatten über das "postfaktische Zeitalter", könnte man den Eindruck gewinnen, dass die politische Lüge ein komplett neues Phänomen sei. Tatsächlich aber sind Lügen in der Politik ein Dauerbrenner, man denke etwa an Watergate (1970er Jahre), die Barschel-Affäre (1980er), den Lewinsky-Skandal (1990er) oder an die Begründungen für den Irak-Krieg (2000er). Das veranschaulicht auch eine Umfrage von 1998: Bereits damals unterstützten 57 Prozent der Befragten in Deutschland die Aussage "Die Politiker scheuen sich nicht, Tatsachen zu verdrehen oder zu beschönigen, um dadurch die Wahlen zu gewinnen"
In der Politik, so eine weit verbreitete Wahrnehmung, spielt Ehrlichkeit eine nachgeordnete Rolle – und das nicht erst seit gestern.
Dass Lügen keine Fremdkörper in der politischen Kommunikation sind, erscheint dabei zunächst wenig überraschend. Denn politische Kommunikation ist in erster Linie strategische Kommunikation. Folgt man dem Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998), dann geht es im politischen System nicht um das Finden von Wahrheit, sondern um die Machtfrage.[2] Politische Kommunikation ist also – nicht nur, aber zu einem großen Teil auch – Machtkommunikation, die dazu dient, sich gegen andere durchzusetzen. So weit, wie das Feld der politischen Kommunikation ist, so weit kann das Feld der politischen Lüge sein, je nachdem wer lügt, wer belogen wird, in welchem Zusammenhang und vor allem zu welchem Zweck.
Die Philosophin und Publizistin Hannah Arendt (1906–1975) kritisierte scharf die Vertuschungs- und Täuschungsversuche der US-Regierung im Vietnam-Krieg, begründete aber zugleich, dass die Lüge ein unverzichtbarer, ja sogar notwendiger Bestandteil des Politischen sei. Ihr zentrales Argument lautete, das Wesen von Politik seien der Streit zwischen Meinungen und die Kompromissfindung. Wahrheiten jedoch lassen Meinungsdiskussionen nicht zu. Der politische Diskurs werde mit dem Anspruch auf Wahrheit abgewürgt; "vom Standpunkt der Politik gesehen ist Wahrheit despotisch", denn sie bestreite das Recht auf andere Meinung. Arendt argumentierte, dass "jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt". Der Lügner hingegen blockiere den politischen Prozess nicht, sondern mache ihn erst möglich.
Im Handeln sah Arendt das zweite Wesensmerkmal von Politik. Diese sei auf die Zukunft ausgerichtet und strebe die Überwindung, Veränderung und letztlich die Zerstörung des aktuellen Zustands an. Die bloße Verkündung der Wahrheit verfestige lediglich das, was bereits existiert. "Für das Handeln, das entscheidet, wie es weitergehen soll, sind Tatsachen keineswegs notwendig." Die Lüge sei Handeln pur, weil sie das, was ist, zu verändern suche. Politik habe die wichtige Aufgabe, Altes zu beseitigen und zu zerstören, um Raum für neues Handeln zu gewinnen. Dazu tragen die Lügenden bei. "Wahrhaftigkeit ist nie zu den politischen Tugenden gerechnet worden, weil sie in der Tat wenig zu dem eigentlich politischen Geschäft, der Veränderung der Welt und der Umstände, unter denen wir leben, beizutragen hat."
(K)eine Lizenz zum Lügen
Sind Lügen in der Politik also erlaubt? Unter Umständen können Lügen vertretbar sein, beispielsweise wenn sie erheblichen Schaden abwenden. Aber während die systematische Lüge für eine Diktatur durchaus systemrelevant ist, kann eine Kultur der Lüge in der Demokratie zu einem substanziellen Problem werden. Nicht nur, weil gute Politik auf Fakten beruhen muss, um nicht zu falschen und schädlichen Entscheidungen zu kommen. Ferner steht die politische Lüge quer zu mehreren demokratischen Kernelementen: Vertrauen, Kontrolle und Transparenz.
Moderne Demokratie ist stets repräsentative Demokratie. Ein Großteil der Entscheidungen wird von politischen Vertreterinnen und Vertretern, von Repräsentanten, gefällt. Repräsentative Demokratie lebt von der Vertrauensbeziehung zwischen diesen Vertretern auf der einen und den Bürgerinnen und Bürgern auf der anderen Seite. Nicht umsonst nennt man im Englischen politische Repräsentanten trustees, also "Vertrauenspersonen". Die Vertretenen müssen den trustees das Vertrauen schenken, dass diese ihre Interessen effektiv in den politischen Prozess einbringen. Vertrauen speist sich aus unterstellter Glaubwürdigkeit. Und tatsächlich ist Glaubwürdigkeit diejenige Politikereigenschaft, die in Umfragen sehr hohe bis höchste Erwünschtheitswerte erzielt.
Die Vermutung, dass Politikerinnen und Politiker lügen und damit für die Bürgerinnen und Bürger unberechenbar werden, belastet das Vertrauen. Vertrauensverluste führen wiederum zu politischer Entfremdung und Apathie – und letzten Endes dazu, dass in der Bevölkerung nicht mehr die erforderliche Unterstützung für das System aufgebracht wird. 1998 verbanden 57 Prozent der Befragten ihre Erwartung, dass Politiker lügen, mit der Aussage "Das zeigt, dass etwas faul ist in unserem Staat".[12] Das Gefühl, belogen zu werden, beschädigt die politische Kultur und gefährdet langfristig die Stabilität der Demokratie.
In Hannah Arendts Worten: "Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist."
Was ist also zu tun, wenn Lügen besonders in Demokratien ein Problem darstellen? Man kann die politische Lüge nicht einfach verbieten. Deswegen muss es in der Demokratie Wege geben, Lügen zu erschweren, aufzudecken, über ihre Rechtfertigung zu streiten und Lügende gegebenenfalls zu sanktionieren. Wie lassen sich Kontrolle und Kritik der Lüge institutionell umsetzen?
Für diese Aufgabe kommen unterschiedliche Akteure infrage. Zunächst das Wissenschaftssystem, das – so Niklas Luhmann – von der Suche nach Wahrheit geprägt ist und damit einen faktischen Referenzrahmen bieten kann.
Ein weiterer wichtiger Kontrollakteur sind die Medien und mit ihnen die Journalistinnen und Journalisten. Es ist ihre genuine Aufgabe, Informationen und Meinungen nicht nur zu vermitteln, sondern auch zu überprüfen. Sie verfügen über die investigativen Ressourcen, Lügen aufzudecken, und über die Möglichkeit, Lügen zu problematisieren. Durch die Herstellung von Öffentlichkeit können sie die politischen Funktionsträger indirekt sanktionieren.
An den Medien werden jedoch die derzeitigen Grenzen des Lügenmonitorings dramatisch deutlich, wie beispielsweise die Rede von der "Lügenpresse" zeigt. Hinter dem Schlagwort steht die Behauptung, dass die Medien ihren Aufgaben nicht mehr effektiv nachgehen, sondern Teil eines Lügensystems seien. Immerhin 42 Prozent der Bevölkerung halten die deutschen Medien alles in allem für "nicht glaubwürdig", und 20 Prozent würden gegenüber den Medien ausdrücklich von "Lügenpresse" sprechen. Ein Teil der Bevölkerung vermutet somit eine "Lüge zweiter Ordnung", also dass die Instanzen, die Lügen aufdecken sollten, selbst lügen. Dies führt zu einer doppelten Vertrauenskrise. Man vertraut den politischen Akteuren nicht mehr, aber auch nicht mehr denjenigen, die diese kontrollieren sollen.
Insgesamt scheinen die herkömmlichen Instanzen der Wahrheit an Grenzen zu stoßen. Die politische Lüge wird somit leichter gemacht. Die Lügenden kommen "straffrei" davon.
Auch die politisch Verantwortlichen sind gefordert. Selbst wenn die politischen Akteure nicht immer die Autoren der Lüge sein müssen, kommt ihnen eine besondere Verantwortung für eine politische Kultur der Ehrlichkeit zu – auch und gerade im Umgang mit Lügen, die ihnen selbst nutzen. Dabei gilt es, zu lernen, dass der Ehrliche nicht zwangsläufig der Dumme ist.
In diesen "postfaktischen" Zeiten eine Kultur der Ehrlichkeit zu entwickeln, ist jedenfalls ein großes Projekt. Aber es ist eines, das verhindern kann, dass aus dem "postfaktischen Zeitalter" ein "postdemokratisches" wird.
Auszüge, Gefunden bei der Bundeszentrale für politische Bildung: Lügen und Politik im "postfaktischen Zeitalter" vom 24.3.2017.
http://www.bpb.de/apuz/245217/luegen-und-politik-im-postfaktischen-zeitalter