Brisante Zusammenhänge, Teil 3: Gnosis und Moderne

Der Zerfall des christlich (mit)geprägten Abendlandes sorgt für Verdruss. Vor allem weil der Vorgang scheinbar nicht zu stoppen ist. Betroffene verorten die Ursachen in der Neuzeit. Das eigentliche Wesen des Phänomens bleibt ihnen verborgen. Und auch dessen historischer Auftakt.

Mysteriöse Weichensteller

Ein Sprung zurück in die Antike. Das Christentum ist noch jung, die traditionelle Linie beginnt sich gerade erst herauszubilden. Plötzlich tauchen rätselhafte Widerständler auf, die als Gnostiker in die Geschichte eingehen.

Offenbar wollen diese Kräfte die Kirche in eine radikal andere Richtung drängen. Ein hitziger Kampf entbrennt. Es dauert Jahrhunderte, den Feind einzudämmen, der mit theologischem Geheimwissen lockt und mit der paradiesischen Schlange sympathisiert. Und nicht nur deshalb als antichristlich gilt.

Die Abweichler lassen kein gutes Haar am biblischen Gott, verunglimpfen ihn als Urheber alles Bösen. Sie ziehen über den traditionellen Teil der Kirche her, wettern über "verlogene Geistliche" und "vulgäre Christen", die mit ihren gefälschten Schriften nichts als Ignoranz verbreiteten. Den Häretikern sind die christlichen Texte zuwider; ihre Polemik liest sich wie eine Vorschau auf die moderne Bibelkritik.

Das wahre Geheimnis der Gnosis

Überhaupt wirken die Gnostiker auf seltsame Weise modern. Sie sind Freidenker, die Autoritäten und Dogmas hassen. Die Welt halten sie für eine üble, vernunftlose Region, die von Tyrannen regiert wird und vor Blut trieft – und zusammen mit ihrem Schöpfer vernichtet gehört.

Stattdessen zählen sie sich zu einer königlosen Gemeinschaft, in der Frieden, Freiheit und Gleichheit zum guten Ton gehören. Anstatt zu glauben, setzen sie auf Erkenntnis, Rationalität, Fortschritt und Wissenschaft zum Wohl der Menschen. Ihre Kosmogonie beginnt unter anderem mit einem Urknall und weist evolutive Züge auf. Kurzum: In diesem kirchenfeindlichen Religionsphänomen verbergen sich alle Leitthemen der Moderne – inklusive dem Tod Gottes.

Ein entscheidender Unterschied

Trotz aller Übereinstimmung ist ein markanter Unterschied zur Neuzeit nicht zu übersehen: Die Systemkritiker streben weder nach einer Revolution noch der Verwirklichung ihrer Ideen. Ein epochemachender Verzicht. Denn so kann sich die traditionelle Kirche durchsetzen und den weiteren Verlauf der abendländischen Zivilisation mitprägen.

Der Geist der Gnosis erweist sich jedoch als unverwüstlich. Das Mittelalter überdauert er im okkult-esoterischen Untergrund, wo seine progressiven Impulse auf Resonanz stoßen. In der Renaissance schürt er Widerstände gegen die alte Gesellschaftsordnung und im Zeitalter der Aufklärung gelingen ihm erste Schritte zur Umsetzung. Und zwar mit neuen Strategien, die den christlichen Gegner zermürben.

Nun ist der gnostisch beseelte Weltwandel nicht mehr zu bremsen. Seine Leitideen ziehen sich wie rote Fäden durch die Geschichte der Moderne bis in den aktuellen Kulturkonflikt. Sogar bis in höchste Kirchenkreise. Kein Zweifel, die Fakten sind peinlich genau dokumentiert.

Der übersehene Lösungsansatz

Viele, die einen eskalierenden Werteverfall beklagen, übersehen den Geist der Operation. Und damit einen weiteren Lösungsansatz. Denn dass die moderne Kirche Ureigenes eliminiert, um mit dem Systemfeind gemeinsame Sache zu machen, ist ein heikles Betriebsgeheimnis. Wie soll sie ihren Schafen erklären, dass sie einen verwässerten Glauben predigt, der ideengeschichtlich mit antichristlichen Sektierern und der paradiesischen Schlange assoziiert ist? Und wie kann sie unter diesen Umständen ihr politisches Engagement rechtfertigen? Wenn dies bekannt würde, könnte es ein reinigendes Gewitter geben. Ja, wenn!

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