Empörung über Gewalt-Postings zu verbreiten, ist zu wenig. Wir brauchen eine öffentliche Debatte, die vielen der Empörten nicht gefallen wird.
Auf Twitter und Facebook gehört es unter renommierten Persönlichkeiten mittlerweile zum guten Ton, Screenshots von derben Hass- und Gewalt-Postings anzufertigen und mit einem Ausdruck der Empörung weiter zu verbreiten. In der Folge kommt es im Wesentlichen zu ebenso empörten Reaktionen aus der geneigten Followerschaft und Rufen nach dem Staatsanwalt.
Mit dieser Praxis solle eine öffentliche Debatte angeregt werden, heißt es dann oft. Das klingt lobenswert, verkommt aber zur reinen Symptombekämpfung, wenn es wie bisher bei dem erwähnten Empörungsechospiel bleibt. Ob die Verbreiter solcher Postings tatsächlich dazu bereit sind, die Debatte zu führen, die nötig ist, darf bezweifelt werden. Denn wir müssten nicht nur über Straftaten in Form von Gewalt- und Hasspostings reden, die konsequent verfolgt und bestraft werden sollen. Wir müssten auch nach den Wurzeln des Problems suchen. Das Problem erschöpft sich ja nicht in derben Gewaltaufrufen in den sozialen Netzwerken. Es setzt sich in einer öffentlichen Diskussion fort, die durch Austausch von persönlicher Abneigung statt Argumenten geprägt ist.
Meinungsfreiheit oder Moral?
Daran tragen alle Seiten Mitschuld, von den rechtsextremen Vereinfachern bis hin zu den linken Intellektuellen. Letztere müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie in den vergangenen Monaten und Jahren nicht ein Zuviel an mit Moral begründeten Denkverboten aufgestellt haben, das mit der sich aus Verfassungsrecht ergebenden Meinungsfreiheit nicht vereinbar ist. Offen zu diskutieren bedeutet auch, Meinungen zuzulassen, bei denen es einem den Magen umdreht. Dieser Satz darf nicht missverstanden werden: Aufrufe zu Hass und Gewalt sind keine Meinungen. Sie sind inakzeptabel und mit allem, was das Recht hergibt zu bestrafen. Aber wer den Austritt Österreichs aus der EU für eine gute Idee hält und das ohne Hassbekundungen vertritt, wer die Kürzung der Mindestsicherung befürwortet und das ohne Hassbekundungen vertritt, wer rechtliche Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Partnerschaft beibehalten will und das ohne Hassbekundungen vertritt, muss das öffentlich tun können, ohne von der Gegenseite einen Mangel an Anstand oder geistigen Fähigkeiten attestiert zu bekommen. Wir müssen uns die Mühe machen, uns in anders Gesinnte hineinzuversetzen, ihnen zuzuhören und versuchen, sie mit Argumenten zu überzeugen. Ich schreibe "wir", weil ich die drei beispielhaft genannten Positionen zu EU, Mindestsicherung und Ehe nicht vertrete.
Ja, jemanden mit bedingungsloser Empathie und Sachlichkeit zu überzeugen, ist mühsam und wird nicht immer, vielleicht sogar fast nie, funktionieren. Ja, viele anders Gesinnte sind nicht an einer sachlichen Diskussion interessiert. Aber es ist besser, zumindest im Gespräch zu bleiben und andere Weltanschauungen zuzulassen, als am Wahltag überrascht und ratlos von Ergebnissen zu erfahren, die keiner der gängigen Experten für möglich gehalten hat.
Nicht zuletzt schenkt man Aussagen mit dem Teilen von Gewaltpostings eine breite Öffentlichkeit, die sie nicht verdient haben und die sie ohne die Empörungsbekundungen auch nie erhalten hätten. Solche Publicity-Geschenke sind umso erstaunlicher, als sie sehr oft Leute vergeben, die etwa erst kürzlich Servus-TV für die Einladung eines Rechtsextremen in eine Diskussionssendung scharf kritisierten. Man solle so einer Weltanschauung doch keine Bühne bieten, sagten sie damals. Jetzt holen sie auf Facebook und Twitter selber Leute vor den Vorhang, die unmittelbar zu Gewalt aufrufen. Manche der Accounts, auf denen die Postings samt Empörung geteilt werden, haben ein größeres Publikum als das betreffende Servus-TV-Format.