Dies ist eine Geschichte, meine Geschichte über mein Lied, das ihr nicht kennt. Obgleich ihr es – sofern ihr jemals eine Geschichte von mir gelesen, ein Bild von mir betrachtet oder mich sprechen gehört habt, es eigentlich doch ein bisschen kennen könntet.
Auch wenn ihr das nicht wisst.
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Danke!
Meine Geschichte beginnt als ich noch klein war. So klein, dass ich mich an ein Davor nicht erinnern kann. Dafür erinnere ich mich an jene zwei Stunden am Tag, an jedem Tag, die eigentlich mein ganzes Leben ausmachten. Das wusste ich damals natürlich nicht. Wie sollte ich auch. Ich wusste nur, dass mein Vater mir abends eine neue, selbst ausgedachte Geschichte aus der Noxx-Welt* erzählte und der nächste Morgen ganz bestimmt mit einem Lied beginnen würde. Das mir Mama vorsang. Ein Lied, das sie für mich, für mich allein sich ausgedacht hatte.
Für mich war beides normal. Und vermutlich war ich überzeugt, dass alle Kinder ein Lied und eine Geschichte hatten. Warum auch nicht. Ich konnte mir etwas anderes gar nicht vorstellen, denn so wie meine Träume in der Nacht und meine Spiele am Tag fortwährend um die Noxx-Welt kreisten, deren Bewohner an meinen Kinder-Zimmer-Wänden ein Eigenleben entwickelten, so allumfassend legte sich mein Lied über mein ganzes Leben.
Das können Sie sich nicht vorstellen?
Das ist traurig. Denn glauben Sie mir, selbst in meinen dunkelsten Stunden hörte ich immer noch mein Lied. Aber natürlich auch in meinen glücklichsten. Tatsächlich stellte ich eines Tages fest, dass mein Leben im Rhythmus meines Liedes verlief.
Ob ich schrieb, malte – ja, sogar wenn ich stotternd (aber keineswegs gehemmt) schnell und immer ein bisschen besserwisserisch meine Meinung kundtat – mein Lied war immer dabei.
Als ich das wiederentdeckte war ich ungefähr 30 und hatte eine ganz üble Phase. Es gab da eine düstere Zeit in meinem Leben über die ich nicht nachdenken wollte, nie nachgedacht hatte und die womöglich deshalb so plötzlich wie unerwartet in mein Leben zurückgekommen war. Und nun versank mein Leben mit einem Mal in Depression und Wut, denn was immer ich versuchte, zuletzt schien ich doch gänzlich unfähig zu sein, allein etwas dagegen zu unternehmen. Ich begriff nicht wieso, vielleicht wollte ich es auch nicht begreifen. Am Ende sah ich keinen anderen Ausweg mehr. Ich brauchte Hilfe, denn ganz offenkundig konnte ich mich dieses Mal nicht allein heilen. Eingesehen habe ich es dennoch nicht.
Ich wollte keine Hilfe. Ich wollte kein Mitleid. Obwohl ich damals beides brauchte. Weil ich depressiv war. Und das erschien mir beinahe undenkbar. Logischerweise stritt ich mich vom ersten Moment an mit meinem Therapeuten – und Sie können nicht einmal annähernd ermessen was es mich kostet, das so lapidar dahinzuschreiben.
Im Rhythmus meines Liedes. Selbstverständlich.
Es war dieser Therapeut – armes Würstchen – der im Laufe unserer Sitzungen nicht nur einen nervösen Klopf-Tick entwickelte, sondern irgendwann, nachdem er wieder mal vergebens versucht hatte mein Geheimnis zu ergründen, den Kopf schieflegte und ins Nirwana lauschend plötzlich stirnrunzelnd sagte, meine nicht besonders feine Beschreibung therapeutischer Sinnlosigkeit hätte etwas sehr Musikalisches. Ja! Wirklich. Ihm wäre beinahe so als hörte er ein Lied.
Noch während er sprach hörte ich es auch. Und ich erkannte es. Mein Lied, das mir gestohlen worden war, mein Lied, das ich vergessen hatte; mein Lied wurde immer lauter. Es war wie die anschwellende Hintergrund-Musik in einem Hollywood-Film. Die schließlich jeden anderen Laut erstickte. So erging es auch dem armen Herrn Knopf, meinem Therapeuten, der am Ende wie ein Fisch den Mund bewegte, ganz lautlos und irgendwie empört. Ich glaube er ahnte etwas, allerdings nicht, dass über uns und um uns herum mein Lied triumphierend dröhnte.
Augenblicklich fühlte ich mich besser. Und sehr verblüfft, denn ich wusste nicht so genau, was ich dazu sagen sollte. War ich jetzt geisteskrank? Schon immer gewesen? Hatten meine lieben Eltern mich in ein Mensch gewordenes Singspiel verwandelt? Und wenn ja, war das nun gut oder schlecht für mich? Schon viel weniger depressiv ging ich nach Hause und grübelte und grübelte, ja, ich merkte nicht einmal, dass ich schon viel weniger depressiv war.
Noch im Einschlafen hörte ich mein Lied.
Und darüber hinaus.
Ja wirklich. Mein Lied verfolgte mich in meinen Traum. Richtiger gesagt, erschuf es einen Traum für mich, den ich bis heute hin und wieder träume. Es ist ein richtig erstaunlicher Traum. Ein hilfreicher Traum. Über den Sie sich allerdings keine falschen Vorstellungen machen sollten. Denn glauben Sie mir, mein Traum ist weder besonders dramatisch noch irgendwie poetisch. Hat keine Engel zu bieten noch Elfen und erleuchtet bin ich bis heute nicht.
Tatsächlich begann der Traum recht prosaisch.
Ich stand am Eingang zum Garten meiner Schwester und schaute auf den riesigen Kirschbaum, der im Mondlicht einfach perfekt aussah. Der Wind rauschte leise, nein, er sang wie mit tausend Stimmen. Und alle Stimmen sangen mein Lied. Gerührt und von erhabenen Gedanken beseelt lauschte ich – den ziemlich eigenartigen Stimmen, die nicht etwa vom Himmel herab klangen, sondern irgendwie alle aus dem Kirschbaum zu kommen schienen. Ich ging näher und näher – und da waren sie. Sie saßen und hingen auf und an den Kirschbaum-Ästen, ihre funkelnden Augen starr auf mich gerichtet und kwäkten mit ziemlich schrulligen Micky-Maus-Stimmen mein Lied.
An dieser Stelle sollte ich vielleicht eine kleine Information über den Kirschbaum meiner Schwester einwerfen, der jedes Jahr so überaus viele Kirschen hat, von denen jedoch keine einzige gegessen wird. Nur keine Bange, auch Sie werden gleich begreifen warum.
Aber vielleicht haben Sie es ja schon erraten?
Natürlich. Alle die dort oben saßen und sangen, lagen eigentlich tief vergraben unter dem Baum. Es waren die Katzen unserer Familie, samt Meerschweinen, einer Maus, einem Frosch und zwei Hunden. Und einem Eichhorn namens Fridolin. Sie waren nicht gespenstisch. Sie waren genau wie im Leben. Na ja. Vielleicht nicht ganz genau so. Gesungen hat eigentlich keiner von ihnen. Als sie noch lebten.
Ich ging hin, setzte mich unter den Baum und sang mit. Und weil meine Stimme erstaunliche Ähnlichkeit mit dem schrillen Geschrei einer rolligen Katze hat, was mir einst ein sehr mutiger Freund gestand, passte sie wunderbar zu dem schrägen Gejaule. Im Traum kam es mir vor als hätte ich die ganze Nacht mit ihnen gesungen. Bis ich einschlief und auch sie alle schlafen gingen. Bis zum nächsten Mal.
Seit dieser Nacht habe ich mein Lied nie wieder verloren. Und wenn ich mal wieder traurig bin kann ich mich darauf verlassen, dass sie des Nachts zu mir kommen und es solange gellend singen, bis meine Ohren abfallen wollen. Und ich wieder glücklich bin.
Ach! Ich hätte es so gern besser beschrieben. Ich weiß nur nicht wie.
Was soll ich sagen.
Es ist eine ganz einfache Melodie.
Mein Herz schlägt danach.
FinisNoXx
*Ganz recht. Viele meiner Geschichten kommen aus meiner Kinder-Noxx-Welt. So wie mein Alias, das ich seit wirklich langer Zeit habe.
Ein Wort noch zu meiner Schwester. Präzise gesagt, zu ihrem Garten. Aufmerksam wie ich immer bin habe ich meiner Schwester selbstverständlich meinen Traum erzählt. Und nun stellen Sie sich mal vor.
Sie ist mir nicht dankbar!