Eigentlich sollte der Beitrag ‚Worüber wir weinen‘ heißen. Denn ich wollte etwas zu dem Foto sagen. Meinem diesjährigen Weihnachts-Bild. Habe ich geschrieben. Auf Facebook. Dass ich das Foto und mein Motiv, just dieses zu nehmen, erklären wollte. Ich habe es immer wieder versucht. Aber die Wut, die mich jedes Mal überkommt, hat mich wieder und wieder zu Sätzen getrieben, die – ich sehe es zwar nicht ein, anerkenne aber Tatsachen – sich niedergeschrieben wohl im Bereich schwerer Beleidigung bewegen.

Also dann. Noch ein Versuch.

Worüber sind wir eigentlich so glücklich, wie alle Medien seit Tagen pausenlos verkünden? Weil wir das einflussreichste Land in Europa sind? Das wird's sein. Zwar ohne Regierung, mit sich an ihre verlorenen Posten klammernden Lach-Nummern ohne Macht, die dafür pausenlos über dies oder das schwafeln, was sie - zum Beispiel in der EU - alles durchsetzen wollen. Aber egal. Dann vielleicht weil es allen in diesem Land so prima gut geht? Sicher. Das sehe ich jeden Tag. Und alle anderen auch. Wenn sie es denn sehen wollen.

In Wahrheit sind wir ein ängstliches Land. Ein verstörtes Land. Ein Land, dessen Rest-Risiko der Bevölkerung zu verarmen, überfallen, erstochen, erschossen, überfahren oder zerbombt zu werden in den letzten Jahren sich ebenso aufgebläht hat, wie das Geschwätz unserer Politiker.

Na dann. Eben anders.

Worüber weinen wir?

Wir weinen, wenn ein Zeichentrick-Rehlein seine Mami verliert. Wir weinen, wenn ein Zauber-Zwilling im Kampf gegen Sie-wissen-schon-wen getötet wird. Wir weinen, wenn ein bleich geschminkter Herr DiCaprio in einem Studio-Wasserbecken versinkt. Und natürlich weinen wir über all die vielen, unendlich vielen traurigen Fotos und Filmchen, die das Net überschwemmen.

Ob gepeinigte Tiere oder gepeinigte Menschen: Wir weinen! Die Fotografen des Grauens bekommen viele Follower und werden mit Preisen überschüttet. Für das entsetzlichste Foto. Das wäre ja in Ordnung. Dienten diese Fotos einem Zweck und nicht der bloßen Selbstdarstellung.*

Wie neulich das Werk von Psychopath Paul Nicken (preisgekrönter Naturfotograf), der einen sterbenden Eisbären filmte – nein, der das langsame entsetzliche Leiden bis zum Tod dieser Kreatur filmte, um sein Werk dann in den Netzwerken mit dem schönen Aufruf ‚zur Rettung der Natur‘ anzupreisen. Für seine Organisation, der er damit 'Aufmerksamkeit'** und Spenden bescheren wollte. Und - klar - er hatte ja Tränen in den Augen, während er filmte.

Nun wartet er vermutlich auf den nächsten Preis. Und ist sich gar keiner Schuld bewusst, obgleich er natürlich wusste, dass es mehrere Schutz-Organisation zur Rettung eben solcher Eisbären gibt, die nun empört, ja entgeistert in allerlei Sendungen darauf verwiesen haben, wie unnötig und mitleidlos Fotograf Nicken (vermutlich gut verpackt und schmausend - aber EHRENWORT weinend!) den unendlich langen Todeskampf verfolgte.

Ja.

Darüber weinen wir.

Wir sind schon sehr befremdlich.

Wir haben eine Regierung aus gierigen Betrügern, mitleidlosen Lumpen und perversen Schmutzfinken, die in den letzten Jahren nicht nur den Ruf so gut wie aller Medien-Vertreter vernichtet haben, indem sie ein ständig applaudierendes Klüngel-Pack schufen, mit dem sie sich dann umgaben, nein, wir haben von uns gewählte VOLKS-Vertreter, die auf das Wort ‚VOLK‘ mit Geschrei und obszönen Gesten – Siegmar ‚The Stinkefinger‘ Gabriel / Ich-nenn-die-auch-Gesindel!-Maas und so weiter – reagierten und allen Ernstes behaupteten, in unserem Land gäbe es für Millionen zusätzlicher Sozialhilfe-Empfänger Geld, Wohnung und umfassende ärztliche Versorgung. Ohne einen einzigen Cent Kosten mehr. Für die arbeitende, Steuern-zahlende Bevölkerung.

Ist das so?

Bekommen alle Kinder einen kostenlosen Kita-Platz? Bekommen alle Kinder kostenloses Essen? Eine Grundausstattung für die Schule geschenkt? Bekommt jeder Bedürftige neue Zähne? Eine Brille? Den Strom bezahlt? Die Möbel? Neue Elektro-Geräte?

Ganz sicher nicht.

Weinen wir über Familien, deren Strom seit Wochen abgestellt ist? Weinen wir über die Familien, die ALTEN (!), die von Städten und Gemeinden ‚entmietet‘ wurden, um Platz für die neuen Sozial-Wohnungen zu schaffen? Weint irgendwer über die vielen Obdachlosen, für die sich hier keine Wohnung findet? Und denen mitleidlose Entscheidungs-Träger (und – das wollen wir doch nicht vergessen: TrägerINNEN) hinterher rufen, es gäbe doch ‚Einrichtungen‘ für solche wie sie. Sicher.

Diese Sorte, die sich ‚grün-sozial-gerecht‘ nennt, scheint nicht mal mehr zu merken was sie sagen. Aber sie sind stolz, dass allein in diesem Jahr Hundertausende Sozial-Wohnungen geschaffen wurden; von so vielen neu gegründeten Firmen (!) – nur hat kein einziger Obdachloser eine davon bekommen.

Ist uns das ein Wort wert?

Weinen wir über uns selbst? Dem ‚reichsten Volk‘ auf Erden? Das einen Armen-Anteil hat, mit frierenden, hungernden Obdachlosen, für den sich jedes Dritte-Welt-Land schämen müsste? Mit einem täglich wachsenden - und doch nicht ausreichendem - Netz an Speisen verteilenden - von Privat-Personen fianzierten - Anlaufstellen für die vielen Armen wie die TAFELN?

Nein. Tun wir nicht.

Ja? Worüber weinen wir dann?

Über ein (künstlerisch bearbeitetes) Foto. Und da meine ich das Original! Mit einem fast sterbenden Obdachlosen und seinem nicht minder erbarmungswürdigem Hund, die im Boden zu versinken scheinen. Einem Foto, das zu einem Projekt gehört, zu einer Studie (The Power of Print) mit deren Hilfe überprüft werden sollte, welche Art Foto das Bewusstsein des Betrachters am besten manipulieren kann.

http://www.roastbrief.com.mx/2014/09/graficos-con-causa-social-mas-premiados-en-los-ultimos-15-anos/

Aber als sei das nicht schräg genug, hat nun ein Haufen Vollpfosten Heiligenscheine über die Köpfe gemalt! Natürlich für den guten Zweck.

Heiligenscheine!

DARÜBER weinen wir. Mit einem guten Gefühl. Es sind doch Engel! Diese - äh - Armen da. Ja. Wir sehen sie als Heilige! Ein Hoch auf uns und unser soziales Gewissen. Außerdem spenden wir Geld an solche Organisationen. Die das – wenigstens ansatzweise gut gemeinte - Original-Foto dermaßen pervertiert haben. Um Spenden abzugreifen. Ja. Das funktioniert.

Die Leute spenden. Anstelle selbst ein paar billige Pullover oder Jacken oder ein paar Tüten Essen zu kaufen und es den Obdachlosen und ihren Tieren zu geben. Direkt da. Wo sie wohnen. Denn davon gibt es mehr als genug. Direkt vor unser aller Augen. Helfen kann jeder. Und – erstaunlicherweise – verweigert sich kaum ein Kaufhaus, eine Firma, ein Fleischer, ein Bäcker einer solchen Bitte um Mit-Hilfe.

Aber nein. Die meisten starren lieber auf solche abartigen Zerrbilder. Und weinen.

Wir Idioten.

Ich wünsche ein frohes Neues Jahr.

FinisNoxx

*Ich nenne als Gegen-Beispiel mal Herrn Zander, der tausende frierende, traurige, verzagte Obdachlose nicht vorführt, sondern der all diesen armen Menschen durch persönliches Betteln bei jedem Promi-Event, Briefe an Firmen, Aufrufe und so weiter ein paar schöne Weihnachtsstunden beschert.

**Für Fotograf Nicken gibt es von mir keinen Link. Wer das Grauen sehen will, soll es selbst suchen.

Anmerkung: Das sogenannte Original-Foto ist natürlich KEIN Foto. Ich muss das anfügen, denn ich habe mich offenbar unklar ausgedrückt.Tut mir leid. Diese beiden sehr armen Gestalten versinken NICHT im Straßen-Belag! Das ist allegorisch gemeint. Es ist ein Kunst-Projekt. Kein Foto.

DESHALB sind die Heiligenscheine um so dümmer. Denn sie sagen entweder: Nein. Wir haben nicht gemerkt, dass das kein Foto sein kann. Oder: Setzen wir noch eins oben drauf.