Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Schulz,
sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestags und alle, die es werden wollen!
Als Ihre prospektive Wählerin trete ich heute mit einer großen Bitte an Sie heran: Sorgen Sie endlich für mehr Wachstum!
In diesem unserem Lande müssen ganz dringend wachsen:
Alant, Blutweiderich, Drachenkopf, Duftnessel, Färberkamille, Fetthenne, Flockenblume, Gamander, Graslilie, Habichtskraut, Hungerblümchen, Jakobsleiter, Königskerze, Kugeldistel, Leinkraut, Malve, Nachtkerze, Nelkenwurz, Ochsenauge, Odermennig, Präriemalve, Rosenwaldmeister, Sandglöckchen, Schuppenkopf, Spornblume, Taubenkropf, Teufelsabbiss, Vergissmeinnicht, Waldziest, Wasserdost, Witwenblume usw.
Was ich mit dieser Auflistung seltsamer Bezeichnungen meine? Es handelt sich dabei um wichtige Insektenfutterpflanzen und die meisten von ihnen sind vom Aussterben bedroht, durch menschliches Eingreifen.
Viele Insekten und die, die sich von ihnen ernähren, wie Vögel, Lurche und kleine Säugetiere finden in den kahlgeräumten Fluren unserer industriellen Landwirtschaft mit ihren Monokulturen und den Einträgen von Gift und Gülle kaum mehr Nahrung, geschweige denn Nistmöglichkeiten. Dies gilt auch für die meisten privaten Gärten, wo „pflegeleichtes“ Grün und hochgezüchtete, pollen- und nektarlose Blütenpflanzen Fülle nur vortäuschen, für Insekten aber nutzlos sind. Im Herbst sorgen Heckenschere, Rasenmäher und Laubsauger dafür, daß jeder noch so kleine Unterschlupf für den Winter zerstört wird.
Die Populationen schwinden in drastischem Ausmaß, wir haben heute um 80% weniger Schmetterlinge, Bienen, Hummeln, Schwebfliegen und andere Insekten als noch in den 90er Jahren. Und da diese (und nicht nur die Honigbienen, denen es ebenfalls schlecht geht), die Bestäuber für unsere Nahrungspflanzen sind, betrifft ihr Verschwinden natürlich auch uns Menschen.
Wenn die Kleinen sterben, gibt es auch immer weniger Vögel, die sich von Insekten ernähren – auch die Körnerfresser ziehen übrigens ihre Jungen mit tierischen Eiweiß groß!
Da diese Vögel ja auch Schad-Insekten fressen – oder gefressen hätten – müssen natürlich noch mehr chemische „Pflanzenschutzmittel“ eingesetzt werden – und so weiter …
Dies alles, liebe (zukünftige) Abgeordnete, wissen Sie natürlich genau so wie ich und jeder Mensch in diesem mediengesegneten Lande. Was mich schockiert, ist allerdings die Tatsache, dass unter den vielen vollmundigen Versprechungen in diesem Wahljahr die Umwelt-Thematik vollends unter die (Traktor-)Räder gekommen ist. Noch nicht einmal in Wahlzeiten wird bei uns mehr auf die lebensbedrohliche Problematik des Insektensterbens hingewiesen!
Sie handeln wie ein Mensch, der ein Apfelbäumchen hegt und pflegt, es sorgfältig gießt und düngt, das Stämmchen mit Sorgfalt anbindet, die Krone beschneidet, die Zweige von welken Blättern und die Blätter von Mehltau und Blattläusen freihält und über jede Blüte jubelt, weil er vor seinem Geist schon die reifen Äpfel sieht – kommt aber einer vom Obst- und Gartenbauverein und macht ihn darauf aufmerksam, daß an den Wurzeln Wühlmausgänge zu sehen sind und das ganze Gewächs schon bedrohlich wackelt, dann jagt er den frechen Menschen aus seinem Garten und bindet sein Bäumchen noch an einen zweiten und dritten Pfahl an …
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, auf einem Ihrer Wahlplakate stellen Sie sich als eine Person dar, die „ein Ohr für die kleinen Dinge“ hat – dies allein wird Ihnen nichts nützen: denn Blumen und Insekten sterben lautlos!
Sehr geehrter Herr Kanzlerkandidat, wenn SIE vielleicht nicht nur die Ohren, sondern auch die Augen und Ihren Verstand nutzen und versprechen, sich um „die kleinen Dinge“ zu kümmern – dann haben Sie meine Stimme!
Ich habe, damit Sie nicht zu leeren Floskeln und wohlfeilen Allgemeinplätzen greifen müssen, zu Ihrer Unterstützung im Folgenden die wichtigsten Sofortmaßnahmen aufgelistet, die – vielleicht – noch das Schlimmste verhindern könnten.
Maßnahmenkatalog zur Eindämmung des Insektensterbens in der Bundesrepublik Deutschland
1. Auf allen öffentlichen Flächen werden ab sofort Wildblumenwiesen angelegt, fachgerecht betreut und nur noch zweimal im Jahr zum jeweils angemessenen Zeitpunkt gemäht, wo möglich ohne motorgetriebene Geräte.
Bei der Einstellung von Hausmeistern für öffentliche Gebäude sollte auf entsprechende Kenntnisse der BewerberInnen geachtet werden (z. B. Mähen mit der Sense), bzw. die Möglichkeit zum Erwerb derselben bestehen.
2. Alle dafür geeigneten öffentlichen Dachflächen werden ab sofort mit insektenfreundlichen Magerwiesen bepflanzt.
3. Alle Waldränder und die Flurstreifen zwischen Feldern mit Monokulturen müssen mit insektenfreundlichen Sträuchern, Stauden und Gehölzen bepflanzt werden.
4. Die Angestellten in den Gemeinden werden regelmäßig in Ökologie fortgebildet. Arbeitslose werden zu Landschaftspflegern umgeschult und von den Gemeinden eingestellt. Der Bund bezuschußt diese Stellen zu 50%.
Asylbewerbern soll bis zum Entscheid über ihren Antrag die Möglichkeit gegeben werden, durch Mitarbeit in der Landschaftspflege (und entsprechende Entlohnung) am sozialen Leben in der Bundesrepublik Deutschland angemessen teilnehmen zu können.
5. Jede Gemeinde bekommt Fördermittel zur Pflege ihrer insektenfreundlichen Umgebung unter fachlicher Begleitung.
6. Alle chemischen Insektenbekämpfungsmittel werden verboten, ebenso elektrische Insektenvernichtungsgeräte. Öffentliche Beleuchtungsquellen werden mit insektenfreundlichen Leuchtmitteln nachgerüstet.
7. Kreisverkehrsinseln werden mit geeigneten Wildblumen und –gräsern, Stauden und Gehölzen insektenfreundlich angelegt.
8. Ein Schulfach Insekten- und Vogelkunde wird eingeführt. Schulhöfe werden nach ökologischen Richtlinien gestaltet.
9. Bürgerinnen und Bürger, die ihre Gärten insektenfreundlich gestalten, bekommen eine Prämie; desgleichen Landwirte, die ihre Wiesen weder mit Chemie noch mit Gülle bewirtschaften und nur zu den ökologisch gebotenen Terminen und mit naturschonenden Maßnahmen mähen.
10. Der Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden!“ wird ersetzt oder ergänzt durch den bundesweiten Wettbewerb „Unser Ort soll grüner werden!“ bzw. „Unsere Stadt soll grüner werden!“.
Wenn Sie mir bis hierhin gefolgt sind, werden Sie jetzt einwenden, die meisten dieser Maßnahmen seien Ländersache und Ihnen seien die Hände gebunden; so leid es mir tut, dieses Argument kann ich nicht akzeptieren.
Wenn Sie wirklich wollen, lassen sich die entsprechenden Mittel, Wege und Paragraphen finden – die Verkehrsregeln gelten schließlich auch in der gesamten Bundesrepublik!
Mit freundlichen Grüßen
Ihre treue Wählerin
Bini Katz