Dieser Tage wäre mein 11jähriges Arbeitsjubiläum in diesem Betrieb, wo ich mich schon bis zu meiner Pension oder gar darüber hinaus sah.
Nach unzähligen Anläufen in unterschiedlichen, teilweise sehr abenteuerlicher Arbeitsverhältnisse und etlichen Kursmaßnahmen des Dienstleisters AMS (StylingWorkshops, kreative Rollenspiele, vornehme Zurückhaltung bzgl. der persönlichen Klugheit, devot lächeln, bescheiden Auftreten, Lebenslauf fälschen bis zu Unkenntlichkeit usw. – sozusagen die gesamte Persönlichkeit verleugnen ), gehörte ich nun zu der Spezies der Langzeitarbeitslosen Alleinerziehenden Frauen 40+. So viele Titel hatte ich noch nie in meinem Leben.
Mit diesem Status hatte ich die Ehre eine Spezialbetreuung zu erhalten. In einem winzig kleinen Büro, lediglich mit Schreibtisch und 2 Sessel bestückt empfing mich ein junger Mann, der wohl mein Sohn hätte sein können. Die Jungen sind ja vielleicht doch noch motivierter und aufgeschlossener, dachte ich. Tatsächlich, ich hatte Glück. Der mir zugewiesene Arbeitsagent war begeistert von meinem Lebenslauf, von meinem Auftreten, von meinen vorsichtig vorgetragenen Wünschen hinsichtlich einer neuen Anstellung. Er telefonierte herum, kramte in den Laden des jungfräulich leeren Tisches, erhob sich schwungvoll und grapschte sich einem bunten Zettel von der Pinnwand. „Das ist es, ja!“ „Die sind ganz neu, die brauchen so jemand wie Sie. Sofort griff er wieder zum Telefonhörer und erzählte der Person am anderen Ende, dass er die „Traumfrau“ hier zu Gast hätte. Nun so rasch hatte ich noch nie einen Vorstellungstermin und tags darauf eine Anstellung. Es war kurz vor Weihnachten, was Besseres konnte mir nicht passieren. Deshalb habe ich wohl in ewiger Dankbarkeit und Demut die Arbeits- und Gehaltsbedingungen ohne Wimpernzucken akzeptiert.
Die ersten Jahre war es tatsächlich mein Traumarbeitsplatz. Mir gefiel die ursprüngliche Philosophie des Betriebes. Ich durfte meine langjährige Berufserfahrung, meinen Einfallsreichtum, meine rasche Auffassungsgabe, mein Können und mein brennendes Engagement voll und ganz einbringen. Der Betrieb war funkelnagelneu. Von Beginn an beim Aufbau mitmachen, wunderbar. Besonders schätzte ich, dass ich schon bald freie Hand für einen großen Arbeitsbereich hatte und vieles selbstverantwortlich gestalten konnte. Da nahm ich die finanziellen Abstriche bei meinem Gehalt gerne in Kauf. Nach 2 Wochen war mir klar, hier möchte ich fix bleiben.
Diese Art von Betrieb nennt sich SÖB (Hr. Daniel Guttmann, kennt dieses Modell sicherlich) und hat eine gewisse Anzahl von Fixpersonal und in Relation dazu Transitarbeitskräfte (TAK). Als TAK war die Anstellung auf eine bestimmte Zeit befristet und Ziel war es, wieder auf dem 1.Arbeitsmarkt einen Job zu bekommen. Ich habe es mit viel Einsatz geschafft in das StammTeam aufgenommen zu werden.
Das vorgesehene Kontingent an TAKs wurde nach und nach aufgestockt. Es kamen nun laufend Menschen zu Vorstellungsgesprächen. Diese fanden in dem Büro statt, wo auch ich meine Tätigkeiten ausübte. Ich war also meist dabei, wenn die Bewerber von der Betriebsleitung interviewt wurden. Nach einer gewissen Zeit, durfte auch ich diese Einstellungsgespräche führen.
Menschen, vorwiegend Männer denen man schon an ihrem Aussehen und Auftreten ansehen konnte, wie ihr Leben bisher verlaufen war. Unterschiedliche Schicksale, die ihr Leben beeinflusst hatte. Krankheit, Drogen, Alkohol , Schulden, Scheidungen und Straftaten waren vorwiegend Standardbestandteile in deren Lebensläufen. Für mich war das nicht ganz fremd, durch meine Arbeit im Obdachlosenheim kannte ich schon die gestrauchelten Menschen unserer Gesellschaft. So manches Gespräch wurde oft zum Abenteuer und jede einzelne Lebensgeschichte würde sicherlich eine spannende Biografie in Buchform füllen.
So auch die, des Herrn Ludwig B. Er war kein Alkoholiker, er war auch nie mit Drogen in Berührung gekommen, hatte keine dramatische Scheidung hinter sich, er war auch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten aber er war dennoch beruflich gescheitert. Ein etwa 1,70 m großer Mann mit knolliger Nase, runde kleine Augen, chaotischer Frisur und schmaler Mund. Die Kleidung war sehr abgetragen, eine Jeans die er über dem Bauchnabel mit einem Gürtel festgeschnallt hatte, ein Hemd das am Kragen leichte Risse hatte und ein Knopf fehlte, darüber eine alte Strickweste mit Muster aus den siebziger Jahren und eine Blousonjacke. Die Ärmel waren viel zu kurz und der Bund reichte kaum bis zum Bauch. Es sah so aus, als wäre es eine Kinderjacke. Die Schuhe waren ziemlich abgelaufen und sicherlich auch schon ein Modell aus dem vorigen Jahrzehnt. Die Figur konnte man irgendwie nicht ganz ausmachen, aber sie wirkte birnenförmig. Oben eher schlank nach unten etwas breiter. Das Alter war schwer ein zu schätzen, weil dieses Gesicht einen ganz speziellen Ausdruck hatte. Irgendwie sah er Stan Laurel verdammt ähnlich. Witzig und berührend zugleich. Er sprach deutlich, dennoch hatte man oft den Eindruck ihn nicht ganz folgen zu können. Seine Unterlagen bewahrte er in einer mehrfarbigen Bauchtasche auf.
Er zog ein Blatt, geschützt durch eine etwas zerknitterte Klarsichthülle aus seinen „Wimmerl“ heraus. Sein Lebenslauf war übersichtlich. Zu unserer Überraschung hatte er eine abgeschlossene Büroausbildung, die schon einige Zeit zurück lag. Es folgten vorwiegend Hilfstätigkeiten in unterschiedlichen Bereichen. Zu Lücken und den Zeiträumen an denen man nicht klar eine berufliche Tätigkeit erkennen konnte wurde der Bewerber intensiv befragt. Wichtig war, was tatsächlich geschehen war und nicht das, was auf dem Papier stand. Bei Herrn Ludwig war es eben dieser auffällige Abstieg nach der Berufsausbildung. Er hatte zwar eine (wohl in Bewerbungstraining eingeübte) Antwort, aber ganz schlüssig war es dennoch nicht. Aber Herr Ludwig durfte bei uns beginnen.
Sein Aufgabengebiet umfasste vorwiegend die Reinigung und nach einigen Wochen übernahm er auch die Ausgabe der Arbeitskleidung. Er war sehr akribisch in seiner Tätigkeit. Fragte ganz genau nach. Er fragte viel und oft. Die Erklärungen wiederholte er dann mehrmals laut. Er hatte einen kleinen Notizblock, wo er in kindlicher Schrift seine Notizen machte. In der ersten Zeit, wirkte er sehr ernst und ich sah ihn kaum mit einem Lächeln in seinem komisch wirkenden Gesicht. Herr Ludwig war immer pünktlich. Herr Ludwig hatte einen langen Anfahrtsweg, obwohl er einen Führerschein besaß fuhr er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Betrieb lag relativ abgelegen und war deshalb auch nur sehr mühsam zu erreichen. Von den Mitarbeitern wurde er meist eher schräg angesehen und so manches Mal gehänselt. Doch er ließ sich das nie anmerken und blieb immer höflich und korrekt in seinem Auftreten. Die Aufgaben wurden ausschließlich vom Fixpersonal an die Mitarbeiter übertragen.
Doch in dieser männerorientierten Branche waren der Ton und der Umgang mit Kollegen nicht immer vom Feinsten. Deshalb kam es auch vor, dass Herr Ludwig manchmal Arbeiten übernehmen musste, die nicht in seinen Bereich lagen. Einige Kollegen betrachteten ihn sozusagen als Trottel vom Dienst. Doch das war er nicht. Herr Ludwig wusste sich auf seine Art und Weise zu wehren. Er überraschte mit treffsicherer Schlagfertigkeit und subtilen Humor. Er suchte sich die Menschen ganz genau aus, mit denen er intensiven Kontakt halten wollte. Herr Ludwig schaffte sich auf seine Art und Weise Gehör und war bei manchen sehr beliebt, einige ignorierten ihn einfach und manche fanden ihn einfach lächerlich. Er hatte ein feines Gespür für Menschen denen er Vertrauen konnte. Herr Ludwig war klug, vielleicht nicht allzu gebildet, aber er kam in seinem Leben zurecht. Er entwickelte sich irgendwie zu einem Faktotum. Bei feierlichen Anlässen (Weihnachtsfeier, Besuch von AMS usw.) war er sehr engagiert und war der Erste, der sich für Aufgaben meldete. Selbst in der Küche konnte er sich gut ein bringen.
Als die vorgegebene Zeit zu Ende ging, war er sehr oft in meinem Büro. Er wollte unbedingt im Betrieb bleiben. Das war aber nicht möglich. Die Bedingungen waren klar vorgegeben. Einen Folgejob konnten wir leider nicht finden. Als er nicht mehr da war, fehlte er in vielerlei Hinsicht. Aber er besuchte uns oft und erzählte ganz genau, was er so den Tag über macht und immer wieder betonte er, wie gerne er wieder bei uns arbeiten würde. Voraussetzung war unter anderem, dass man einen gewissen Zeitraum durchgehend arbeitslos gemeldet war. Herr Ludwig besuchte weiterhin unzählige Kurse und die Zeit verging.
Ursprünglich war es nicht vorgesehen, einen Mitarbeiter ein weiteres Mal ein zustellen. Doch die Praxis zeigte, dass es für Viele mehrere Anläufe brauchte.
So war es auch bei Herrn Ludwig. Er durfte abermals bei uns arbeiten. In dieser „zweite Runde“ wurde Herr Ludwig selbstbewusster, er schaffte sich Ansehen durch seine Kompetenz in seinem Bereich. Er war nicht nur noch der „Putzfetzen“ vom Dienst, nein er war so etwas wie ein Hausbesorger, Hausdiener, Müllinspektor und er nahm seine Aufgaben sehr ernst und er war stolz darauf. So kam es auch, dass wir mehr von seinen privaten Lebensumständen erfahren konnten. Seine Schwester und er besaßen ein Haus mit Grund. Geerbt von den Eltern. Diese hatte ein Jahrzehnte lang einen gutgehenden Betrieb. Herr Ludwig kam jetzt oft um Rat zu fragen, was er denn mit dem Haus machen sollte. Eigentlich war dieses Haus mittlerweile eine Baracke, es machte also keinen Sinn, es weiterhin zu behalten. Bisher hatte er dieses Kapitel in seinem Leben völlig zu Seite geschoben. Uns gegenüber sprach er niemals darüber. Aber jetzt war offensichtlich so viel Vertrauen da und wir konnten ihn ausreichend zu Hand gehen, was diese Sache betraf.
Es war vorwiegend die Sozialarbeiterin und die Betriebsleitung derlei private Probleme gemeinsam zu lösen. Sorgen mit Wohnung, Kinder, Scheidung, Gericht, Geld, Drogen, Krankheit und viele andere Nöte wurden angesehen und wir versuchten diese so gut wie möglich gemeinsam auf die Reihe zu bekommen. Eine sehr verantwortungsvolle und aufreibende Angelegenheit.
Herr Ludwig hatte zu mir von Beginn an großes Vertrauen, er kam mit all seinen Sorgen und Fragen gerne zu mir. Wie auch viele der anderen Mitarbeiter auch. Ich erfuhr sehr viele Details, manches Mal Geheimnisse aus deren Leben. Mein Eindruck war, er lächelte viel mehr, als zu Beginn. Und er war sogar in der Lage so etwas wie Small-Talk zu führen. Üblicherweise plapperte er drauf los und hörte gar nicht auf das was der andere sagte. Er hatte zu Beginn auch kein Gespür dafür ob er im richtigen Augenblick im Büro auftauchte. Es kam schon vor, dass er zwar immer anklopfte, aber er übersah, dass eventuell gerade jemand anderer im Büro war, das ich vielleicht im Augenblick am telefonieren oder anderweitig beschäftigt war. Ich denke nicht, dass es daran lag, dass nicht aufmerksam war. Wohl eher, dass er die Situation nicht erkannte. Aber er hatte dazu gelernt, er fragte jetzt immer ob er jetzt „dran kommt.“ Ja, er hatte sich fast zu einem sehr charmanten und unterhaltsamen Gesprächspartner entwickelt. Seine manchmal sehr devote Art und Weise einem gegenüber zu treten war kaum noch vorhanden. Sein Selbstvertrauen war beachtlich gestiegen.
Als er dann endgültig den Betrieb verlassen musste, schenkte er mir eine Bonboniere. Ich war sehr gerührt. Ich hatte diesen Mann wirklich sehr ins Herz geschlossen und wünschte ihm das Allerbeste für seine Zukunft. Es kam aus tiefsten Herzen und ich bin überzeugt davon, er macht seinen Weg, auf seine Art und Weise.
Leider hat die „normale“ Arbeitswelt heute kaum bis gar keinen Platz mehr für solche Menschen. Es macht sich niemand mehr die Mühe, weil es keine Zeit dafür gibt, hinter die Kulissen eines Lebenslaufes eines Menschen zu blicken. Im Berufsuniversum gibt es keinen Platz für langsame Menschen, auch wenn sie ihre Arbeit total korrekt ausführen. Was zählt ist ausschließlich höchste Leistung innerhalb kürzester Zeit. Und Zeit kostet bekanntlich Geld.
Außerdem wer braucht schon einen etwas kurios wirkenden kleinen Mann, der aus der Reihe fällt. In mehrfacher Hinsicht. Eine Persönlichkeit der anderen, aber besonders loyalen, gewissenhaften, ehrlichen, redlichen und zuverlässigen Art. Ein anständiger Arbeiter eben.
Seit drei Jahren bin ich nicht mehr in diesen Betrieb, aber ich habe erfahren, dass Herr Ludwig ab und an dort auf Besuch kam. Als er aber erfahren hat, dass ich nicht mehr dort tätig bin, ist er nie wieder hingegangen.
Mittlerweile wurde das komplette fixe Team ausgewechselt, warum weiß ich nicht, aber es wird wohl Gründe haben, von denen ich lieber nichts wissen will – weil sie mir zuwider sind – in dieser erkalteten Arbeitswelt in der die immer mehr werdenden Hr. und Fr. Ludwigs nicht hinein passen. Selbst wenn sie äußerlich nicht gleich so auffällig sind wie dieser brave Mann.
Schade, dass ich noch nicht mein Museum habe, ich würde Herrn Ludwig sofort als „Guten Geist“ des Hauses einstellen!
Weil Herr Ludwig k e i n Außenseiter ist!
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