Blog-Bild: Foto by Bluesanne

Die Straße schlängelt sich zwischen einer endlosen alten Ziegelmauer und den Bahngeleisen der Aspangbahn. Die zuvor noch schnatterhaften Gespräche zwischen meiner Allerliebsten und mir verstummen langsam. Konzentriert fahre ich die kurvige Straße entlang. Ich versuche mich zu erinnern, welche Tornummer es denn nun tatsächlich sei. Lange war ich nicht hier. Viel zu lange.

Zur Sicherheit hatte ich mir die  Adresse in meinem Kalender eingetragen. Der Weg vom Eingang bis an die richtige Stelle ist nicht allzu weit. Es ist sonnig und angenehm warm. Als wir uns an der letzten Wegkreuzung befinden, steuere ich zielsicher an den richtigen Ort. Zwischen all den dunklen und sehr ähnlichen Steintafeln, ragt eine schlanke weiße hervor. Viel Platz ist hier, der Weg ist im Gegensatz zu den vielen anderen, sehr breit. So wie zuletzt streiche ich mit der Hand über den hellen Grabstein. Taste mich an den eingravierten Buchstaben entlang. Meine zehn Finger in den zehn Zeichen seines Namen, die zwar fühlbar sind, aber nicht sichtbar. Nicht einmal, wenn man ganz nahe steht ist etwas zu erkennen. Als sollte niemand wissen, dass er nun hier ist. Ein wenig eigenartig, wie ein Türschild ohne Aufschrift.

Aber er ist nun schon mehr als fünf Jahre hier an diesen sehr windigen Platz. Das erschwert das Anzünden der Kerze enorm. Als sie dann endlich brennt, platziere ich sie in eine der beiden Glaslaternen. Die Grabstelle selbst strahlt in vielen bunten Farben. Eine kleine Wiese aus dutzenden Stiefmütterchen. Ich knie mich hinunter zu den lustigen Blümchen. Zwischen diese fröhliche Farbpracht schiebe ich vorsichtig meine weiße Lilie. Mit ein paar Blättern versuche ich die prächtige Blume auf dem Grab ein wenig zu fixieren. So, dass sie nicht gleich die nächste Windböe davon tragen kann. Sanft streichle ich über das kleine Blumenmeer auf dem Grab und klaube dabei noch ein paar vertrocknete Blätter heraus.

Ich bin mir nicht sicher, ob es Dir hier wirklich so gut gefällt, sage ich. Wahrscheinlich sitzt Du ohnehin in einem traditionellen Wiener Kaffeehaus. Genießt einen doppelten Mokka, zündest Dir eine Gitane an und erzählst elendslange Geschichten aus Deinem viel zu kurzen Leben. Ein intensives, ein abenteuerliches, ein sehr ereignisreiches Dasein. Als Bohémien, Freigeist und Genussmensch erfreust Du Dich an den Musestunden mit Deinen Freunden Oskar, Herbert und vielen anderen kreativen Köpfen. So wie Du einer wahrst. In der einen Hand ein Gläschen Bowmore Whisky in der anderen Deine gelbe Meerschaumpfeife. Gelassen würfelst Du das nächste Sechserpasch um den Gegner beim Backgammon zu schlagen. Auf dem edlen Holzbrett, dass Du als eines der wenigen Dinge, die Du noch besessen hast auch schon im Obdachlosenheim Deine Steine gezogen hast. Ganz sicher bin ich mir, dass Du Deinen 58. Geburtstag ordentlich gefeiert hast. Mit ein paar Martinis, schönen Frauen und delikaten Speisen.

Die nächste Windböe zischt über mich hinweg. Langsam erhebe ich mich von der Erde, verabschiede mich und gehe Arm in Arm mit meiner Allerliebsten in Richtung Ausgang.

Wir sehen uns wieder, mein lieber Freund, mein Fels, mein obdachloser Bariton. In meinem Herzen hast Du für immer Deinen Platz.

©Bluesanne bedankt sich fürs Lesen!

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