Blog-Bild: "Flipper"

Montag wanderte ich durch den Weihnachtsbaumwald, atmete tief diesen herrlichen Duft von Harz und Holz ein und streichelte den einen oder anderen Ast im Vorübergehen. Obwohl die Nadeln so spitz sind, fühlen sich die Zweige zwischen den Finger so weich und sanft an. Dutzende Fichten und Tannen sind in etlichen Reihen der Größe nach sortiert aufgestellt. Präsentieren ihre grüne Pracht und warten auf ihre neuen Besitzer.

In den letzten drei Jahren sind meine Christbäume immer kleiner ausgefallen. Wir hatten früher immer Einen, der bis zur Decke reichte. Diese sind mittlerweile zu kostspielig für mein kleines Budget. Der Platz im Wohnzimmer wird auch immer knapper aufgrund meiner vielen Malereien. Ja und wenn die Katern zu neugierig werden, ist es nicht so dramatisch, wenn das Bäumchen vom Tisch fällt.

Deshalb hielt ich diesmal wieder Ausschau nach den kleineren Exemplaren. Sie standen am Rand des eingezäunten Wäldchens. Da entdeckte ich die etwa 50 cm kleinen Bäumchen, die aussahen als seien sie lediglich die Spitze der Großen. Wenn ich diese Winzlinge sehe, muss ich immer an meine Oma denken.

In meiner Kindheit fuhren wir regelmäßig mit dem Zug auf den Semmering. Dort gingen wir viel spazieren und besuchten immer unsere Babybäumchen. Meine Oma erzählte mir, dass aus so einem winzigen Nadelbüscherl einmal ein ausgewachsener Christbaum wird. Ich war fasziniert und konnte das kaum glauben. Jeden Sommer fuhren wir an dieselbe Stelle im Wald und ich war schon sehr gespannt, wievielte Zentimeter sie gewachsen waren. Gerne hätte ich mir so ein Bäumchen mitgenommen. Aber meine Oma erklärte mir, dass diese hier im Wald besser aufgehoben sind, weil sie sehr lange brauchen um wirklich groß zu werden. Aber ich durfte die Zapfen von den erwachsenen Bäumen in meinen Rucksack stecken, samt den Käfern die oft drinnen lebten.

Ich habe keine Ahnung mehr wo genau sich dieser Platz am Semmering befindet, aber ich habe diese Ausflüge geliebt. Meine Oma war bei der Bahn beschäftigt, darum konnten wir öfter mit dem Zug relativ günstig kleine Reisen unternehmen.

Meine Oma ist am Montag den 27.April 1914 geboren. Aus ihrer Kinder und Jugendzeit weiß ich so gut wie Garnichts. Doch wenn ich mir vorstelle, dass sie zwei Weltkriege überstanden hat, muss das ziemlich schauderhaft gewesen sein. Sie war einmal verheiratet und hatte drei Kinder. 1943 wurde meine Mama geboren und 1945 meine Tante. Das dritte Kind war ebenfalls ein Mädchen, welches aber schon mit einem Jahr an einer Lungenentzündung gestorben ist. Deren Geburtsjahr kenne ich leider nicht. Meine Oma war nicht sehr lange verheiratet, ihr Mann war angeblich ein Spieler. So war sie in den 50er Jahren eine alleinerziehende Mutter.

Als ich (1962) geboren wurde wohnte sie schon in dieser 40 m² Gemeindewohnung im 2.Bezirk zwischen Prater und Augarten. Wahrscheinlich hat sie mir damals die Windeln gewechselt, so wie meine Tante, die ebenfalls noch dort lebte. Aus dieser Zeit weiß ich ebenso wenig, wahrscheinlich ist dann irgendwann mein Vater dort eingezogen. Als ich drei Jahre alt war kam meine Schwester auf die Welt. In den nächsten drei Jahren meine anderen Geschwister. Wir waren 3 Mädchen und 2 Buben.

Ich habe meine Oma in eine dieser Kleiderschürzen in Erinnerung, die heute ab und zu noch Frauen auf dem Land oder am Markt tragen. Total verrückt bunt gemustert oder mit Blümchen verziert. Vorne mit 7 großen weißen Knöpfen zum verschließen. Darunter trug sie meist eine Kombinage einen Pullover oder eine Bluse. Die dicken Strümpfe befestigte sie an ihren hautfarbenen Strumpfbandgürtel. Ihre Brille war über die Jahre immer die Gleiche geblieben, auch wenn sie wieder mal zu Bruch gegangen war. Damals wurde diese von der Krankenkasse bezahlt. Wenn ich mir die heutigen so ansehe, sind diese Augengläser der von meiner Oma nicht ganz unähnlich. Ihre Haare hat sie mit winzigen Lockenwicklern selbst eingedreht und darüber ein Haarnetz gespannt. Wenn die Löckchen dann fertig waren, hat sie meist ein Kopftuch getragen. Dieses Tuch bestand aus einen ganz feinen Stoff der leicht durchsichtig war.

Auf den ärmellosen Arbeitsmänteln waren zwei große Taschen aufgenäht. Darin befanden sich meist ein Stofftaschentuch, etliche Gummiringerl und manches Mal sogar eine 1 Schilling Bensdorp Schokolade. Die hat sie von ihrer Arbeit bei der Bahn mitgebracht. Dort hat sie geputzt und in der Betriebsküche ausgeholfen.

Daheim hat sie sich ebenfalls vorwiegend um den Haushalt gekümmert und uns Kinder versorgt.

Als ich dann schon erwachsen war, habe ich sie regelmäßig besucht. Die größte Freude konnte man ihr mit Kaffee und Krapfen machen. Sie liebte dieses süße mit Marmelade gefüllte Germteiggebäck. Bevor ich zu ihr fuhr, sollte ich sie immer zeitgerecht anrufen. Sie hörte nicht mehr so gut. Wenn ich dann bei der Sprechanlage an läutete, wusste sie dass ich es war. Sonst öffnete sie aus Vorsicht nicht die Türe. Selbst bei der Eingangstüre fragte sie nochmal nach, wer draußen steht.

Kaum war ich im Wohnzimmer, werkelte sie schon in der winzigen Küche herum. Sie tastete sich vorsichtig in der kleinen Kredenz, zu den Häferln und Tellerchen heran. Dieses Küchenmöbel, war immer noch dasselbe wie in meiner Kindheit. Im Wohnzimmer hatte sich auch kaum etwas geändert. Ich nahm Platz und fragte sie immer, ob ich ihr helfen könnte. Sie verneinte es jedes Mal vehement. Meine Oma hat immer schon sehr schlecht gesehen, doch es wurde immer schlimmer. Aber sie kannte ihre Wohnung gut, das half ihr sich gut zu Recht zu finden. Für die Jause bei meiner Oma musste man viel Zeit haben. Es dauerte alles ein wenig länger, weil sie eben darauf bestand, alles selbst zu machen.

Meist war ich am Wochenende bei ihr. Sie drehte dann immer den Fernseher an, um sich „Die liebe Familie“ mit mir gemeinsam an zu sehen. Dabei saß sie dann etwa 30 cm vom Bildschirm entfernt, damit sie ein wenig von den Bildern erkennen konnte. Sie hat sich darüber nie beklagt. Doch einmal erzählte sie mir, dass es schon ärgerlich sei, wie durch eine dicke Milchglasscheibe zu sehen. All die Bücher, die sie sich im Laufe der Jahre zugelegt hatte, wollte sie jetzt in ihrer Pension lesen. Das ging leider nicht mehr.

Auch wenn ihre Augen und Ohren nicht mehr so fit waren, ihr Gedächtnis war immer hervorragend. Seltsamerweise habe ich sie kaum nach ihrer Vergangenheit befragt. Wahrscheinlich, weil in unserer Familie nie darüber gesprochen wurde, wie über so vieles andere auch nicht.

Doch diese gemeinsamen Plaudereien hatten dennoch was Gemütliches und Friedliches. Meine Oma hat den Kaffee immer frisch zubereitet, die Milch in einem Emailreindel aufgewärmt und mit einem Sieb in die Tasse geleert. Na ein typischer OmaMilchKaffee eben. Dazu gab es Butterbrot oder die mitgebrachten Krapfen. Meine Oma Schnitt sich das Brot immer in winzig kleine Würfelchen und aß so Stück für Stück genussvoll auf. Manchmal saßen wir einfach nur da und sprachen nur wenig. Oder sie drehte ihr altes Radio mit dem magischen Auge auf und wir hörten uns das Wunschkonzert an. Sie liebte Musik, genauso wie ich. Und ebenso unterschiedlichste Art von Musik. Ich erinnere mich, dass sie irgendein ziemlich rockig fetziges Lied spielten und sie total begeistert war. Früher war sie öfter tanzen gewesen, hat sie mir erzählt. In einem Saal irgendwo beim Augarten, wo jetzt ein großes Elektronikgeschäft eingezogen ist.

Wenn der Besuch dann zu Ende war, steckte sie mir immer ein wenig Geld zu. Sie bekam zwar nur die Mindestrente, doch sie bestand darauf, dass ich es nehme.

1991 (mit 47 Jahren) starb meine Mutter, die zweite Tochter die sie verloren hat.

1992 (mit 24 Jahren) starb mein Bruder, ihr Enkelsohn.

1996 rief sie mich im Spätherbst an, um mir zum 15. Hochzeitstag zu gratulieren. Ich musste ihr mitteilen, dass es nichts mehr zum Feiern gibt, da ich die Scheidungeingereicht habe. Sie war irgendwie erleichtert.

Meine Oma stürzte im Jahr 2000. Sie kam das erste Mal seit Jahrzenten ins Krankenhaus. Eigentlich war die Verletzung nicht so schlimm, doch meine Oma hat wohl diese Abhängigkeit von anderen Menschen nicht ertragen. Ihr gesamtes Leben hat sie Alles selbständig tun können, trotz ihrer starken Sehbehinderung. Und jetzt konnte sie nicht einmal mehr alleine auf die Toilette gehen. Ich denke, dass wollte sie nicht.

Am 27.11.2000 ist sie verstorben. Beim Begräbnis war es eisig kalt und ich hatte mir meine dicke schwarze Lederhose angezogen. Meine Restverwandtschaft hat sich darüber ziemlich echauffiert. Meine Oma hätte es sicherlich sehr cool gefunden.

In diesem Jahr, wäre sie 100 Jahre alt geworden. Eine Fichte in diesem Alter, steht bestimmt am Semmering und ist mittlerweile sicherlich schon 30 Meter hoch. Vielleicht fahre ich irgendwann wieder dorthin und versuche diesen gemeinsamen besonderen Ort von meiner Oma und mir zu finden.

Schade, dass ich von dieser starken Frau so wenig weiß. Doch eines weiß ich sicher, das war ihr Lieblingslied:

...und ihre Lieblingsfarbe war orange!

Der kleine Mann mit dem Schokoladenikolo in der Hand, ist mein Sohn. Mit dem ich heute ins Kino gehe. Ein Weihnachtsgeschenk.

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