Blog-Bild:"Flying Animals"

Menschen und ihre Geschichten haben mich schon immer sehr interessiert. Sehr viele Schicksale und Erlebnisse habe ich bereits erzählt bekommen. Privat wie auch in meinem Job im sozialen Bereich haben mir unzählige Menschen ihre Lebensgeschichte anvertraut. Sie konnten immer sicher sein, das ich niemals was ausplaudern würde. Darüber hinaus habe ich geduldig zugehört und so manches Mal konnte ich auch den einen oder anderen Rat weitergeben. Ich persönlich habe daraus ebenfalls einiges profitieren können. Mitunter waren es doch sehr heftige und ungewöhnliche Erzählungen. Somit gibt es nur noch vereinzelt Dinge, die mich wirklich umhauen, wenn ich sie höre oder lese.

Deshalb war es wahrscheinlich auch kein Zufall, dass ich in meinem nonkonformen Nachtleben auf eine sehr interessante Fernsehsendung gestoßen bin.

Sie findet täglich von Montag bis Freitag im deutschen TV statt. Parallel läuft sie im Radio. In der Zeit von 1:00 Uhr bis 2:00 Uhr Früh wird hier 60 Minuten lang telefoniert. Ein sympathischer 57 jähriger Autor, Journalist und Moderator spricht mit den Anrufern. Es gibt lediglich einmal in der Woche ein vorgegebenes Thema. Ansonsten kann sich jeder zu jeglichen Thema melden. Eine Stunde Talkradio mitten aus dem Leben gegriffen.

Es melden sich junge Mädchen und Buben mit Liebeskummer. Frauen die als Prostituierte arbeiten. Männer, die ihre Frau betrügen und umgekehrt. Menschen im Alter von 9 – 99 Jahren rufen an und erzählen von ihren ganz persönlichen Problemen. Viele wollen ihre Geschichte erzählen. Doch der Großteil braucht Rat oder Unterstützung für seine aktuelle Lebenssituation. Selbstverständlich wird hier auch hier sehr oft über sexuelle Vorlieben bis zu den vielfältigen Spielarten in diesem Bereich gesprochen. Dominas die über die seltsamsten Wünsche ihrer männlichen Kundschaft berichten. Die absurdesten und bizarrsten Geschichten sind schon über die Lautsprecher gelaufen. Doch selbst die ungewöhnlichsten Praktiken oder Neigungen der Anrufer bringen den souveränen Moderator nicht aus dem Konzept. Alle Menschen, die sich melden, werden ernst genommen. Es kommt sehr selten vor, dass der Mann im Studio ungeduldig oder gar unhöflich wird.

Sachlich und wortgewandt diskutiert er mit jungen Männern mit sehr fragwürdigen politischen oder religiösen Einstellungen. Alle Anrufer werden respektvoll behandelt und nie vorgeführt. Es entsteht ein vertrautes, ja ein ganz und gar intimes Ambiente.

Deshalb ist es für mich auch nicht verwunderlich, dass einige der Anrufer ihre ganz persönliche Geschichte das erste Mal erzählen. Auch wenn lediglich der angegebene Vorname und das Alter verlautbart wird, ist es wahrlich ein Phänomen. Unzählige Erzählungen über Missbrauch in der Kindheit habe ich in all den Jahren, die ich diese Sendung nun schon sehe, gehört. Sexuelle und körperliche Übergriffe in den unterschiedlichsten sozialen Schichten. Diese Menschen tragen ihr Geheimnis oft über Jahrzehnte mit sich herum und dann eines Tages rufen sie dort an und erzählen alles bis ins kleinste Detail.

Vielleicht mag der eine oder andere denken, das würde ich nie tun. Und viele der Anrufer sagen auch oft, sie hätten sich nie vorstellen können, ihre intimsten Geheimnisse öffentlich von sich zu geben. Und dennoch tun es täglich etwa fünf bis sechs Personen. Die Gesprächszeit pro Anrufer beträgt etwa zehn bis 15 Minuten. Natürlich reicht diese Zeit oft nicht aus, um die Anliegen ausreichend zu behandeln. In vielen Fällen werden die Anrufer von professionellen Psychologen zurück gerufen. So wird im Hintergrund vielen Menschen ein wenig geholfen und/oder zusätzlich unterstützt, denke ich.

In all den Jahren, die ich diese Talk-Sendung schon verfolge hörte ich weitere unzählige Geschichten aus dem Leben vieler Menschen. Natürlich bleiben auch mir viele der kuriosen Erzählungen im Kopf. Wie die des Mannes, der ein sexuelles Verhältnis mit seinem Gummibaum hat. Doch diese extremen Geschichten sind für mich persönlich jetzt nicht so spektakulär, wie vielleicht für das breite Publikum und es sind Einzelfälle.

Die Hauptthemen betreffen den Tod, Beziehungsfragen, Drogen und Alkohol.

In der heutigen Sendung haben zwei Personen über ihr Problem mit dem Alkohol gesprochen. Ein Mann, der aufgrund seiner exzessiven Sauferei aus Deutschland ausgewandert ist. Seitdem er sein Leben komplett örtlich verändert hat, trinkt er keinen Tropfen mehr.

Die Dame mit 2 kleinen Kindern, die 4 Flaschen Wodka pro Tag trank und jetzt wieder trocken ist. Dutzende derartige und ähnliche Alkohol getränkter Geschichten sammeln sich hier pro Woche an.

Eine erwachsene Frau, die 4 Kinder hat und nebenher eine Beziehung mit einem Mann aus dem Bekanntenkreis ihres Ehemanns. Sie sei verliebt und wisse nicht was sie nun tun soll. Sie klingt am Telefon schüchtern, fast wie ein Teenager. Was ist das Problem? Ihr Mann ist nicht so freundlich, wie der Liebhaber mit dem sie sich heimlich im Auto auf einem Feld trifft. Die Gefahr, dass alles raus kommt ist natürlich groß. Ja und da sind ja auch noch die Kinder. Ein paar gezielte Fragen des Nachttalkmasters bringen das Dilemma der Frau innerhalb kürzester Zeit auf den Punkt. Das Gespräch endet wie fast alle, die Anrufer sollten  ihre ganz eigenständige und persönliche Entscheidung und Antwort finden. Der Moderator hilft den Menschen lediglich auf die Sprünge.

Ehrlich und offen spricht er seine persönliche Meinung zu den Themen aus und an. Und die Menschen schätzen seine Worte sehr.

Dies sind nur kleine Beispiele, worüber die Menschen ganz offen im Fernsehen und Radio reden. Ihre Seele für das breite Publikum öffnen.

Ein besonders großen Anteil der Gespräche drehen sich um die komplexen Themen Krankheit, Sterben und den Tod. Nicht sonderlich verwunderlich, da sich die Menschen in diesen Bereichen in einer Ausnahmesituation befinden. Diese Gespräche zeigen mir, dass es dafür in unserer Gesellschaft nicht sehr viel Platz gibt. Die Vielzahl der Menschen, die plötzlich durch einen derartigen Schicksalsschlag aus den  Alltag geworfen werden ist für mich erschreckend.

Aber das vorrangigste Problem überhaupt, welches ich persönlich am meisten in dieser Sendung mitbekommen habe ist die Einsamkeit der Menschen. Das Alleine dastehen ohne soziales Umfeld. Egal ob junge oder alte Leute. Trotz aller Vernetzungen in unserer modernen Zeit, fühlen sich unzählige Menschen im Stich gelassen. Es sind keineswegs Außenseiter oder diejenigen, die gewollt ihr Leben alleine gestalten wollen. Nein, es sind ganz normale Menschen wie Du und ich. Oft genügt lediglich ein winziges Detail in ihrem Lebenslauf, welches ihren Alltag völlig ändert. Jobverlust, Krankheit, Tod eines Angehörigen oder sonstige Schicksalsschläge schieben diese Menschen ins Abseits. Aber auch Menschen, die vielleicht etwas anders sind als das Gros der Gesellschaft ist.

Es scheint mir als geschieht Ausgrenzung viel zu schnell und endgültiger. Sobald der Mensch offensichtlich keine Funktion mehr in der Gesellschaft hat, ist er weg vom Fenster. Die Aussicht wieder ein Teil des Gesamten zu werden wird von Mal zu Mal geringer.

Diese Einsamkeit spiegelt sich jedoch in vielen Gesprächen in der Form , dass Menschen kaum mehr in der Lage sind miteinander zu reden. So viele Gespräche drehen sich um partnerschaftliche Sorgen. Und eigentlich sollte es doch vorrangig sein, mit seinem Lebenspartner das Gespräch zu suchen. Doch bevor sie dies tun, rufen sie in dieser nächtlichen Talkshow an und besprechen es in der Öffentlichkeit mit einem, eigentlich völlig fremden Menschen.

Mag sein, dass es vielleicht nur mir so vorkommt, dass immer mehr Menschen von Einsamkeit betroffen sind. Vielleicht auch deswegen, weil sich mein persönliches Leben immer mehr in diese Richtung entwickelt. Meist ist es ja so, dass einem erst dann ein Bereich beschäftigt, wenn man selbst davon betroffen ist. Da wird das persönliche Empfinden schon Mal relativ subjektiv. Vielleicht liege ich ja falsch in meinen Beobachtungen. Jedoch würde es mich schon ein wenig beruhigen, wenn der eine oder andere Mensch nicht verzweifelt in einer nächtlichen Talkshow anrufen müsste. Aber gut, dass es sie gibt, wer weiß was ohne dem Telefonat mit ihnen geschehen wäre.

Für mich ist diese Sendung ein gutes Beispiel wie ein öffentliches Medium auch seriös mit dem Menschlichen umgehen kann. Ich denke sie ist auch so manches Mal hilfreich vielleicht die eigenen Sorgen zu verarbeiten. Aber vor allem gewährt sie einen enormen Einblick in das Seelenleben und die elementaren Bedürfnisse der Menschen.

Immerhin läuft diese öffentliche Telefonseelsorge bereits 20 Jahre.

Wer sie nicht kennt, kann sich hier einige Sendungen ansehen:

NachtTalk

Ich persönlich habe einmal ein Mail an die Redaktion verfasst. Rückmeldung habe ich keine erhalten. Doch ich hätte keine Scheu gehabt, öffentlich darüber zu sprechen.

Ich habe nichts zu verbergen, aber viel zu bewahren!

Vor allem schätze ich das persönliche Gespräch mit Menschen.

Ob ein derartiges Format auch im österreichischen Fernsehen und Radio funktionieren könnte?

Würdet ihr da anrufen?

Mit wem redet ihr persönlich über Eure Probleme und Anliegen?

Wer steht Euch auch in schweren Zeiten zur Seite?

weitere Beiträge von Bluesanne im Überblick

4
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
5 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Andy McQueen

Andy McQueen bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:01

Claudia Braunstein

Claudia Braunstein bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:01

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:01

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:01

5 Kommentare

Mehr von Bluesanne