Beinahe drei Jahre schon, beginnt die Woche für mich mit einer Therapiestunde. Somit begebe ich mich in regelmäßigen Abständen etwa drei bis vier Stunden unter Menschen. Eine Fahrt in der U-Bahn kann oft zu einer enormen Herausforderung werden. Im Laufe der Zeit habe ich mir einige Ablenkungsmanöver zu Recht gelegt. Eine notwendige Maßnahme um mich vor den aufkommenden Ängsten ab zu schirmen. Nicht direkt Angst vor dem menschlichen Wesen an sich. Wohl eher vor den hektischen Gruppen, die mir scheinbar auf allen Wegen entgegen rennen. Aber vor allem benötige ich ein adäquates Schutzschild vor den Gefühlen meines Gegenübers in der U-Bahn. Oft sind die Energiequellen eines Menschen, derart negativ aufgeladen, das diese direkt in mich hinein fliegen. Gigantische traurige dunkle Wolken, die mit einem Mal meine Seele touchieren. Wie reale Schläge, prügeln sie schmerzhaft auf mich ein. Derart heftig berührt, fließen so manches Mal Tränen hinter meiner Sonnenbrille. Also ist es immer gut, mich z.B. mit einem Buch ab zu lenken.
Vergangenen Montag war die Therapie sehr intensiv ausgefallen. Wobei ich den Eindruck habe, auch einen kleinen Schritt voran gekommen zu sein. Üblicherweise fahre ich nach den 50 – 60 Minuten andauerden verbalen Seelen-Striptease nach Hause. Doch irgendwie trieb es mich noch in einige der belebten Nebengassen der Wiedner Hauptstraße. In diesen Seitenarmen befinden sich zahlreiche Lokale unterschiedlichster Art. Alle locken sie mit Tafeln, worauf die jeweiligen kulinarischen Tagesspezialitäten angepriesen werden. Die Sonne, nebst einiger weniger freier Plätze laden zum Bleiben ein. Ich lasse mich von einer gemütlichen Rot gepolsterten Bank verführen. Vorweg bestelle ich mir Kaffee und ein Stück Apfeltorte. Rechts neben mir sitzt eine französisch sprechende dreiköpfige Familie. Die Gäste studieren noch eifrig die Speisekarte. Aus meinem Rucksack hole ich mein kleines Büchlein, meine Füllfeder und Zigaretten. Ordentlich platziere ich die Dinge auf dem Tisch. Kaffee und Kuchen finden ebenso noch einen passenden Platz. Der erste Schluck Kaffee. Ein Bissen von dem Kuchen. Ich schlage mein A5 großes „Geheimnisträgerbuch“ auf.
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Vorsichtig entferne ich die Kappe meiner Füllfeder. Ich stecke sie nicht oben auf. Das macht mein Schreibwerkzeug zu schwer und etwas unhandlich. Meine Einträge beginnen mit dem aktuellen Datum. Oft beschreibe ich kurz die aktuelle Stimmung um mich oder in mir. Es ist ziemlich laut. Im Vergleich zu meinem zu Hause, sogar sehr geräuschvoll. Verkehrslärm von der naheliegenden Operngasse. Bellende Hunde, schreiende Kleinkinder und das Sprachengewirr vorbei ziehender Menschen. Ein weiterer genussvoller Schluck Kaffee, ein Stück Kuchen. Die Franzosen neben mir haben mittlerweile ihre Speisen erhalten. Besteck klappert. Regelmäßig huscht die Kellnerin vorüber. Ebenso spazieren Menschen an all den Tischen hier draußen auf der Gasse vorbei. Eine etwa zehn Meter lange Tischreihe auf dem Gehsteig, flankiert von etlichen Sitzgelegenheiten.
Meine Feder kratzt sich schwungvoll über das karierte Papier. Umso mehr ich meinen Gedanken folge, desto schneller flitzt sie dahin. Die schwarze Tinte füllt Seite für Seite. Die kurvigen Buchstaben schicken mich auf eine Reise. Weit weg, von all dem Tosen rund um mich. Plötzlich scheint es stiller geworden zu sein. Mit zunehmend geschriebenem Wort entferne ich mich von dem lauten, hektischen Geschehen. Die leise, friedliche Welt in meinem Büchlein öffnet sich stetig. Ich folge meinen Erinnerungen. Welche von meinem Kopf in die rechte Hand fließen. Zwischen Daumen, Zeige.- und Mittelfinger tänzelt die in der Sonne glänzende Feder. Fröhlich formt sie mit ihrer Spitze nach der Reihe zahlreiche Buchstaben. Eilig entstehen daraus die aneinander gereihten Worte. Manchmal hebe ich den Kopf, blicke um mich, doch es lenkt mich kaum noch etwas ab. Die Füllfeder zuckt nervös in meiner Hand und fordert Bewegung ein. So als habe sie nicht genug von den spannenden Abenteuern. Ungeduldig kritzelt sie Blatt für Blatt voll. Die Tinte trocknet rasch durch eine Brise warmen Sommerwind. Gedanken verwandeln sich in kurzer Zeit zu geschriebenen Zeilen.
Augenblicke und Abenteuer aus unterschiedlichen Epochen meines Lebens landen auf dem Papier. Festgehalten für ewige Zeiten. Zumindest solange, die kleinen Büchlein nicht verloren gehen. Schriftliche Abziehbilder eines Moments. Fotos in Form von unzähligen Lettern. Bilder, die aus meinem Kopf in gut gewählte Worte verpackt werden. Verziert, garniert und geschmückt. Damit sie der vermeintliche Leser wieder auspacken kann. Ähnlich der geheimnisvollen Päckchen unter dem Christbaum. Eines jener, wo man keineswegs erkennen kann, was sich darin verbirgt. Erst dann, wenn das Präsent Stück für Stück geöffnet wird. So werden sich die geschriebenen Worte, wieder in Bilder verwandeln. Wahrscheinlich werden diese etwas anders aussehen, wie die, die anfangs in meinem Kopf entstehen. Doch wenn sie nur im Ansatz, den Meinen gleichen, ist es erfreulich. Denken, Schreiben, Worte formen. Gedanken schriftlich zu einem neuen Bild aufmalen. Vielleicht sogar einen kleinen Film erschaffen. Phantasie, zwischen gelagert mit Tinte auf Papier. Phantasie, welche sich der Leser jederzeit aus dem Depot der Buchstabenvielfalt abholen kann und darf.
Die Kaffeetasse ist leer. Der Teller, ohne Kuchen schon längstens abserviert. Der volle Aschenbecher mehrmals von der Kellnerin durch einen neuen ausgetauscht. Die Franzosen sind auch schon weiter gezogen. Dafür sitzen nun zwei spanisch sprechende junge Frauen, links von mir am Tisch. Das Schreiben und die Sonne haben mich durstig gemacht. Meine Füllfeder hat noch immer keine Lust, wieder im Rucksack zu verschwinden. Kurzfristig hat sie ein technisches Problem. Ihr Tank ist gleichfalls leer. Die Schrift verblasst. Also schraube ich sie auf und füttere sie mit einer neuen Tintenpatrone. Sie bedankt sich bei mir mit frischen neuen glänzenden Zeichen. Keine Ahnung, wie spät es ist. Die Jahre sind im Flug vergangen. Ich lege ein Löschblatt zwischen die zuletzt geschriebenen Seiten. 34 Blätter habe ich vollgeschrieben. Drei Stunden habe ich hier auf dieser Bank verbracht. Was so lautstark und rastlos begann, wurde von Mal zu Mal leiser und entspannter. Mitten unter Dutzend von Personen.
Es ist schon ein wenig fatal. Gleichzeitig Angst und Sehnsucht gegenüber Menschen zu empfinden. Aber ich denke, Aufenthalte wie an diesen Montag in einem Straßenkaffe sind eine gute Übung. Das zusätzliche Schreiben im Lokal war immer schon eine Leidenschaft von mir. Ich kann sie nur allzu gut verstehen; all die vielen Kaffeehaus-Literaten in Wien. Wo man beinahe in jeder Lokalität, unbegrenzte Zeit zum Verweilen geschenkt bekommt. Gleich, ob ich lediglich einen Kaffee in drei Stunden konsumiere oder doch noch ein Stück Mehlspeise dazu genieße. Ein Platz des kreativen Innehaltens. Ein Ort voller Abenteuer. Rundum, oder auf dem Papier.
Eine erweiterte zusätzliche private Therapiezeit. Zeit, die ich benötige, um mit all dem Alten ab zu schließen. Und obendrein auch noch mit der neuen aktuellen, durcheinander geratenen Welt zu Recht zu kommen.
©Bluesanne bedankt sich fürs Lesen!