ALLES NUR SCHALL UND RAUCH – Von Bogumil Balkansky

Kein Videothekenkunde weiß von den einsamen Momenten des Videothekars. Wenn der Videothekar seine Videothek morgens aufsperrt, die Aschenbecher ausräumt und den Boden mit dem Staubsauger bearbeitet, ist noch niemand da. Und spätabends, wenn der Videothekar zusperrt, ist die Tagesabrechnung seine letzte, einsame Beschäftigung.

Meine Videothek ist früher ein Gasthaus. Es ist ein L-förmiges Ecklokal, dessen längere Achse entlang der Linzer Straße verläuft. Die Schank von einst beherbergt nun meine Kassa und den Computer mit der Database. Dahinter sind die aktuellen VHS-Kassetten für den Verleih in Resopal-Regalen verstaut.

In der Stille der Nacht

Damit mich die Nachzügler, die nach der Sperrstunde noch Einlass begehren, nicht bei der Abrechnung stören, lösche ich alle Lichter. Dann flimmert nur noch der Computermonitor. Davor sitze ich und bin wegen der hohen Schank von außen gänzlich unsichtbar. Wenn die Abrechnung beendet ist, packe ich das Geld aus der Kassa in meinen "Fleck", wie der Wiener die großen, ledernen Geldbörsen der Kellner nennt, und drehe einen Joint. Von außen sieht das sicher eigenartig aus: ein flimmernder Monitor, hinter dem dicke Rauchschwaden aufsteigen. Gott sei Dank ruft nie jemand die Feuerwehr.

Dieser Joint am Ende eines Arbeitstages ist eine Art psychologische Begleitmaßnahme. Er hilft mir, den Tag abzustreifen, die vollgespritzten Cover im Pornokammerl lustig zu finden, mir die Gesichter der Spritzenden vorzustellen und eine Weile einsam vor mich hinzukichern. Und weil ein Videothekar mit seiner Tageslosung in diesem Teil Penzings ein logisches Überfallopfer ist, nimmt er mir die allabendliche Sorge vor dem Nachhauseweg.

Das Laufgespenst

Der erste warme Frühlingstag ist zu Ende, alles andere ist wie immer: Licht aus, Monitorflimmern, Abrechnung, "Fleck", Joint. Der zweite Zug ist stets der beste, weil da gerade der erste Zug voll einfährt. Dann senkt sich meine Schädeldecke ein wenig ins Hirn, und mein Verstand nimmt den ganz langsamen Aufzug Richtung Keller. Wie schön ...

Doch beim dritten Zug höre ich zum ersten Mal etwas anderes als das Summen der Lüftung im Computer und das leise Knistern des glosenden Joints. Ich höre Schritte! Es sind schwere Schritte, wie die eines Mannes in Stiefeln, der erst zögernd einen Fuß vor den anderen setzt, dann schneller schreitet und bald zu laufen beginnt. Es ist eindeutig: Entlang der Wand, auf meine Theke zu, läuft jemand. Oder etwas. Kurz bevor die Schritte mich erreichen, verstummen sie.

"Scheiß Joint!" Das ist mein erster Gedanke, nachdem ich vom Boden aufstehe, weil ich aus Angst schlicht vom Sessel kippe. Ich glaube sogar, ich spreche das auch tatsächlich laut aus: "Scheiß Joint!" Dann stürze ich zum Hauptschalter und schalte alle Lichter in der Videothek gleichzeitig ein. Wovon mir der Elektriker bei der Übernahme der Videothek strikt abrät.

Es werde Licht!

Für den Bruchteil einer Sekunde wird es hell in der Videothek, und ich kann sie bis zur gegenüberliegenden Wand sehen. Niemand (und nichts) ist da. Wie vom Elektriker prophezeit, setzt der Kurzschluss ein, es ist stockdunkel, und vom plötzlichen aufleuchten der Lampen geblendet sehe ich nur rote, lila und gelbe Kreise, wohin ich blicke. Ich sehe keine Theke, keine Wände und auch nicht den Sessel, über den ich stolpere und wieder auf dem Boden lande. Gott sei Dank oder vielmehr Jah-Jah sei Dank glost, einem feurigen Teufelsauge gleich, der Joint irgendwo links von mir. Wenn mich das Gespenst dieser verfluchten, spermaverseuchten Videothek holen möcht', dann bitt'schön nur butterwaach!

Bald verblassen die bunten Ringe, und meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Ich taste mich zum Sicherungskasten, kippe den FI-Schalter auf "On" und, einen nach dem anderen, die Schalter für jeden Raum. Wie es der Elektriker einst empfiehlt. Ich sage "Scheißelektriker!", ziehe den linken Schuh aus, streife die Socke vom Fuß und stopfe einige Rollen Kleingeld hinein. So bewaffnet durchsuche ich die ganze Videothek. Auch das Kassettenlager, dessen Tür hinter einem Regal in der Pornokammer versteckt ist. Da ist niemand, aber ich sehe, dass ich morgen mit dicken roten Gummihandschuhen, Schutzbrille, Mundmaske und Danchlor die Cover wieder mal vom Sperma befreien muss. Morgen erst. Heute Abend will ich nur noch ins Bett.

Auf dem Weg nach Hause verschwende ich keinen einzigen Gedanken an einen möglichen Raubüberfall. Nur an die herbeilaufenden Gespensterschritte in der finsteren Videothek. Und dann, beim Penzinger Bahnhof, fällt es mir ein: Ich glaube gar nicht an Gespenster! Ich bin ein Balkan-Scheißmacho-Partisanenenkel-Oberkotzbrocken! Wovor soll ich mich fürchten! Man sollte mich fürchten! Auch Gespenster!

Hallo! Ist dort jemand?

Am nächsten Tag lasse ich das Licht brennen, scheiß' auf Abrechnung und Joint und montiere mit einem Akkuschrauber jenes Regal ab, hinter dem gestern die Schritte verstummen. Und finde eine Telefonzelle aus den 60er Jahren. Sie ist in die Mauer eingelassen, ihre Wände und der Boden sind mit morschem Holz verkleidet. Das Telefon ist ein großer grauer Metallkasten, der Hörer aus Bakelit, die Wählscheibe aus transparentem PVC. Ich stehe vor diesem unerwartet aufgetauchten Relikt wie ein staunender Zeitreisender. Dann ertönen die Schritte wieder. Sie beginnen zögerlich, weit hinten im Raum, und werden immer schneller, je näher sie kommen. Aber da ist niemand! Vor der Telefonzelle enden sie abrupt, und ich widerstehe nur knapp dem Drang, zur Seite zu springen. Dann drehe ich mir den Abrechnungs-Joint. Und behirne alles, was ich hier sehen und begreifen kann.

Der Joint knistert, der Computer summt, und vor der Telefonzelle endet eine Bohle des Fußbodens. Diese Bohle, so kann ich feststellen, verläuft entlang der ganzen Wand, über die ganze Länge des Raumes. Es ist jene letzte Bohle vor der Wand mit den Videoregalen, auf die Dutzende meiner Kunden treten. Dann ruht das gesamte Gewicht mehrerer Menschen gleichzeitig auf dieser einen Bohle, während meine werten Kunden die Cover studieren. Wenn der Tag zu Ende ist, das Licht gelöscht und die Luft kühler wird, während ich die Abrechnung mache, beginnt sich die Bohle zu entspannen. Erst zögernd, dann immer schneller. Bis die Entspannung an der vergessenen Telefonzelle endet. Weil dort die Bohle endet. Und diese Scheißtelefonzelle ist schuld an allem. Sie ist der Resonanzraum, der dem Geschehen das Spektakuläre verschafft.

Nur ein Spiel der Natur. Nur Physik. Scheiß Physik!

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pirandello

pirandello bewertete diesen Eintrag 22.06.2020 15:34:28

Zaungast_01

Zaungast_01 bewertete diesen Eintrag 22.06.2020 11:15:51

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