Bogumil Balkansky

Obwohl erst 40 Jahre alt, ruht in Mate das Wissen von vier Jahrhunderten. So lange leben Menschen schon rund um die Kapelle des hl. Johannes an der Punta Nigra, die von den heutigen Stivanjani Bunta genannt wird.

Mate ist ein Mensch der stillen Sorte, der mit wenig schon zufrieden ist und der in den Bračer Wintern, wenn die Bora alle Stivanjani in die Häuser oder in die Hafenbar treibt, aufmerksam zuhört, was die Alten und die Jungen erzählen.

Mates kleines Glück

Er gehört zur letzten Generation junger Jugoslawen und ist der letzte Stivanjanin, der in der Volksarmee dient. Als 1991 in seiner Kaserne in Pula Zigaretten an die Grundwehrdiener verteilt werden, riecht das für Mate nach Krieg. Und er beginnt zu rechnen. Mit dem ihm noch zustehenden Heimaturlaub und den Belohnungstagen für Wacheschieben und Blutspenden fehlen ihm immer noch zehn Tage, um sofort abrüsten zu können. Ob der Krieg so lange wartet?

Am nächsten Tag sucht der Kommandeur Freiwillige, die unter die Kasernenlatrine kriechen sollen, um eine üble Verstopfung der Ableitung zu reparieren. So meldet sich Mate zusammen mit einem Kosovo-Albaner, schlüpft in seine ABC-Ausrüstung und kriecht in die Eingeweide der Latrine. Mit den Exkrementen hunderter Soldaten besudelt und unter dem Applaus derselben, die mit flüssigen Winden bereits vor der Latrine warten, kriecht Mate wieder hervor und bekommt zehn Tage Sonderurlaub. Nur wenige Stunden nach seiner Rückkehr nach Sutivan beginnt der Angriff der Volksarmee auf Slowenien.

Wir schreiben 2012. Es ist Sommer und ich bin wieder auf Brač. Mate sagt zu mir: "Komm, wir fahren Feigen pflücken!" In einem klapprigen italienischen Auto aus den 80ern schaukeln wir an der Kapelle des hl. Vinzenz vorbei bis zum Grat des Hügels, unweit jener Stelle, wo ich in der letzten Kolumne meine Unschuld verliere. Hier ist ein Olivenhain, einige Feigenbäume und eine alte Hütte, die Mates Vater in seiner Jugend baut, um das Heu für den Esel und die Maultiere trocken zu lagern. Darin hat Mate eine Autobatterie als Stromquelle und einen kleinen Holzofen als Heizung und Kochgelegenheit. Daneben stehen ein Bett und eine ausrangierte Kommode. Wir klettern aufs Dach. Nach Norden blicken wir über den Bračer Kanal Richtung Split, nach Süden über die Hügel von Brač. Mate sagt: "Hier bin ich glücklich." Auf dem Dach sitzend schweigen wir dann eine Stunde lang. Ab und zu nippen wir an Mates Rebenschnaps und essen seine Feigen. Bis die Sonne untergeht.

Der letzte Fischer

Seine Gajeta ist fast hundert Jahre alt und Ivo, genannt "Sila", was Macht, Gewalt oder Stärke bedeutet, ist 82. Die Gajeta ist bis zur Wasserlinie blau und darunter braun, was man nur sieht, wenn sie über ein Wellental reitet. Ivo Sila ist der letzte professionelle Fischer von Sutivan. Als ich ihn frage, wie der Fang ist, klagt er, es gebe immer weniger Fische und Lignje (Sepia) in der Adria. Weil ich ihn aufmuntern will und weil man das hier so sagt, wenn die Zeiten schlecht scheinen, meine ich lakonisch: "Es wird besser, Sjor (von ital.: signore) Ivo!" Doch Ivo schüttelt nur den Kopf: "Ich bin jetzt 82 Jahre alt, und immer sagen die Leute, es wird besser. Aber es wird nichts besser!"

Inzwischen hängt im Büro des Bürgermeisters auch ein Ölgemälde, gemalt nach einem Foto, das Ivo Sila in seiner Gajeta stehend zeigt. Ivo ist auch deswegen unverkennbar, weil er immer dieselbe Uniform trägt: eine dunkle Hose, einen dünnen Rollkragenpulli, den man hier "Dolce Vita" nennt, weswegen manche Stivanjani Ivo auch Dolce Vita statt Sila nennen, und eine schwarze, zerschlissene Baskenmütze. Mate löst mir das Geheimnis um den Rollkragen: Als er ein Kind ist, verbrennt heißer Kaffee Ivos Hals, die Dolce Vita verbirgt seine Narben.

Ivos Frau stirbt jung. Seitdem, so erzählt mir Mate, schaltet Ivo weder das Radio noch den TV-Apparat ein, geht nie wieder zu Tanzabenden oder Dorffesten. Die Stivanjani werden seiner nur ansichtig, wenn Ivo aus seinem Häuschen kommt, um die blaue Gajeta loszumachen und "in die Fische" zu gehen. Wenn er wieder anlegt, ist jede seiner Bewegungen minimalistisches Ballett. Das Drosseln des Motors, der kurz gehaltene Rückwärtslauf, das Auffangen der Muring, das Abnehmen der Pinne und der kurze Schritt vom Bug zum Kai. Wenn Ivo zu Hause ist, liegt alles auf der Gajeta genau am selben Ort wie vor dem Ablegen: die Pinne am Motorkasten, der Anker rechts zwischen den Rudern verhakt und der Hocker für das Entwirren des Netzes links neben dem Bugkasten.

Der Tag wird kommen, da Ivo Sila nur noch eine Legende ist, eine Erzählung der alten und jungen Stivanjani, die man einander ins Gedächtnis ruft, wenn die Winter-Bora über den Hafen fegt. Ich mag die Vorstellung, dass man dann sagen wird, Ivo sei eines Tages mit seiner blauen Gajeta "in die Fische" gegangen und sei einfach bei ihnen geblieben.

Der Ofen im Hafenbecken

Auch die alten Stivanjani sind vor Zeiten jung, vorläufig unsterblich und an Abenteuern mit Mädchen interessiert. Wer ein Boot hat, kann seine Eroberung zu einem einsamen Strand segeln, wo man alleine mit den Sternen und dem Meer ist. Wer kein Boot hat, weil der Vater kein Fischer, sondern Wein- oder Olivenbauer ist, kann seine Kumpel bitten, ihm das väterliche Boot für die Nachtfahrt zu "borgen".

Ein beliebter Spaß in den Zeiten vor der Erfindung der Elektronik ist es, heimlich einen schweren Gegenstand, am besten einen alten gusseisernen Herd oder Ofen, im Hafenbecken zu versenken und mit einer langen Leine am Boot festzumachen. Die Leine soll gerade bis zur Hafenausfahrt reichen, um dann der Nachtfahrt ein ruckartiges Ende zu bereiten. Weil dabei der Hormonkapitän meist noch mit dem Segel hantiert, fällt er über Bord. Seine Kumpel, die hinter Tamarisken versteckt auf diesen Moment warten, retten dann lachend den "Schiffbrüchigen". Und reiben ihm diese Geschichte für die kommenden Jahrzehnte bei Gelegenheit unter die Nase.

Hotspot an jedem Ort

Ich schreibe nun die zweite Sutivan-Geschichte in Folge, weil ich grad da bin. Jede Bar und jedes Café hat heute einen Hotspot, wo die Jungen über diverse Apps und Chats mit dem anderen Geschlecht Hormonentladungen verabreden. Die meisten Boote sind aus Plastik oder Gummi und haben gewaltige Fahrmaschinen am Heck, die so laut sind, dass leise Mondnachtromantik für immer vertrieben scheint. Wenn ich kann, werde ich eine alte Gajeta kaufen, einen Mast und ein Segel montieren, sie blau streichen und mit meiner Freundin und unserem Sohn "in die Fische" gehen. Vielleicht gleitet dann in einer stillen Mondnacht lautlos Ivo Sila mit seiner Gajeta an uns vorbei.

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Zaungast_01

Zaungast_01 bewertete diesen Eintrag 01.08.2020 13:28:23

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