Von Bogumil Balkansky: In Rudolfsheim aufwachsend, ist Meidling die aufregende Terra incognita. Seit sieben Jahren lebe ich nun selbst dort. Und fühle mich irgendwie ... angekommen!

Wir wohnen nahe der Meidlinger FuZo. Klein und hofseitig, im zweiten Stock, Altbau. Vor uns wohnt hier ein brasilianischer Dealer namens Regis. Der Türstock der Eingangstür ist seit einem Polizeieinsatz um gut zwei Zentimeter nach innen versetzt. Davor wohnen wir im selben Haus, aber im ersten Stock straßenseitig. Zwischen einer Hure und einer Heiligen ...

Baron Samedis Kinder

Svetlana wohnt zu meiner Linken, ist Slowakin, ist nett, ist leise, ist hübsch. Ihr Studium der Religionspädagogik finanziert sie mit Babysitting und Gelegenheitsjobs. Was davon überschießt, investiert Svetlana in ein höheres Gut: die jährliche Pilgerfahrt nach Medjugorje. Ihre Einladungen, zusammen mit ihren Freundinnen aus der Betrunde (die wir manchmal in ihrer Wohnung in Action hören können) die Diashow anzusehen, schlage ich stets mit höflichen Ausreden aus. Weil ich schon weiß, wie die Herzegowina aussieht. Und die Muttergottes.

Mein Sohn ist ein schlafender Säugling in meinen Armen, als ich Svetlana im Hof treffe. Sie fragt nach seinem Namen, lächelt freundlich, streicht dem Baby mit dem Daumen kreuzförmig über die Stirn und sagt: "Du bist Konstantin!" Überraschungstaufe, denke ich in Sekundenbruchteilen, gibt es die?! Dann bitte ich Svetlana, Konstantin auch in die Arme zu nehmen. Ihr Gesicht strahlt so, wie ich es von manchen Darstellungen der Madonna kenne. Ich hebe die Hand zu Svetlanas Stirn und streiche ihr mit der Daumenkuppe ein unsichtbares Kreuz auf die Stirn: "Du bist Svetlana." Und Svetlana grinst: "Ich bin doch eh schon getauft!" Und ich grinse: "Jetzt auch im Namen meines Herrn, des Baron Samedi!" Und nun grinse nur noch ich: "Am Ende, meine Liebe, werden wir alle zu Kindern des Baron Samedi!"

Bis sie auszieht, bleibt Svetlana nett, leise und hübsch. Sie grüßt und fragt immer nach Konstantin. In ihrem Blick meine ich zu erkennen, dass sie mir, gänzlich christlich korrekt, ihre Überraschungstaufe an meinem Kind vergeben hat.

Maria, die Magdalena

Sie wohnt zu meiner Rechten, und man hat ihr erst das Gas abgestellt, später auch den Strom. Mit der Miete ist Ivana auch schon im Verzug. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie zu romantisch für ihren Job ist. Ivana verkauft ihren Körper gelegentlich, manchmal auch oft und ausschließlich an Afrikaner. Einige Wochen kommt Ivana zu uns duschen, und abends, bevor sie die Nacht aufreibt, auch essen. Dabei erzählt sie oft vom aktuellen Mr. Niceguy, der nun bei ihr bleiben wird, so dass sie bald aufhören kann, Hure zu sein. Wir nicken, Konstantin nuckelt, alle schmatzen.

Ivanas Morgen beginnt gegen 13 Uhr, wir trinken Kaffee, essen Kipferl, sie saugt an ihrem ersten Joint. Drogen sind, wie ihr Körper, eine Währung in Ivanas Leben, und sie meint, Gefälligkeiten mit dem einen oder dem anderen bezahlen zu müssen. Also sauge ich manchmal auch am Joint. Dann fühlt Ivana sich gut. Und ich auch. Meistens vergeben wir anschließend schallend lachend ihren diversen Stammkunden Spitznahmen. Da ist Mr. Callshop, der einen Callshop betreibt, Mr. Muscle, der Rausschmeißer ist, und Mr. Big Animal, von dessen Dimensionen und Ausdauer Ivana ehrlich begeistert ist.

Doch kein "Mr.-noch-so-Niceguy" bleibt bei ihr. Allesamt nur die Illusion von Liebe. Ich bloß die Illusion einer Freundschaft. Manchmal gehe ich mit Kaffee und Kipferl in ihre Wohnung. An ihrem Kühlschrank sind mit bunten Magneten Kinderzeichnungen befestigt, die Ivanas kleine Tochter ihr aus Ostrava schickt. Da lebt das Kind bei Ivanas Eltern. Auf den losen Blättern sind immer nur große rote Herzen gezeichnet, darin zwei Gestalten, eine groß, die andere klein, die einander an der Hand halten. Rundherum viele Male das Wort "Mama". Manchmal, bei Kaffee, Kipferl und Joint, weint Ivana.

Teufel mag Hunde, Beelzebub Fische!

Auch Dealer müssen wohnen, und in so mancher Meidlinger Mietskaserne wohnt auch einer. Mein Wohnhaus hält eine Weile den Grätzlrekord. Amir "Der Chinese" ist Austro-Mazedonier, Regis ein Brasilianer mit deutschem Nachnamen, weil sein Großvater 1946 nach Brasilien ausgewandert ist. Beide ziehen fast gleichzeitig in unser Haus ein. Amir in die Wohnung über unserer und Regis hofseitig genau gegenüber Amir. Daraus ergibt sich jedoch kein Drogenkrieg. Jeder hat seine Kunden, und die sind, wenn sie kommen, eh nüchtern und wissen, zu welcher Tür sie gehen müssen.

Amir hält sich nicht lange im Geschäft. Im Haus gegenüber wird eine ganze WG zu seiner Stammkundschaft, und weil Telefonieren in Sachen Kokain zu gefährlich ist, besprechen Amir und seine Kunden-WG alles durch Zuruf über die Gasse. Manchmal folgen an der Busstation wartende Passagiere gespannt diesen Brülldialogen. Wenn Amir seine Freundin nicht schlägt, weil sie wieder davongelaufen ist, schlägt er seinen Rottweiler. Nach wenigen Wochen springt der Hund aus dem zweiten Stock, die Tierrettung entnimmt eine Blutprobe wegen Verdachts auf Tollwut, weil der Hund trotz gebrochener Beine nicht zu bändigen ist - und findet reichlich Amphetamine in der Probe. Am nächsten Tag wird Amir verhaftet.

Regis bleibt fast drei Jahre in unserem Haus. Bei einer Begegnung am Gang trägt Regis einen Plastikbeutel mit kleinen bunten Fischen. Konstantin, der schon sprechen kann, sagt für den Rest des Tages nur noch: "Fische! Fische!" Und am nächsten Tag ebenfalls. Am dritten Tag stehe ich nachmittags mit Konstantin vor Regis' Tür: "Konstantin will Fische schauen, Papa will zwei Gramm vom Besten. Deal?" Seitdem sind wir so etwas wie Kumpel. Regis' kleine Wohnung ist ein Labyrinth aus Aquarien, und er zeigt Konstantin jeden Fisch und jede Krabbe. Zudem sieht Konstantin zum ersten Mal hautnah Menschen von einem anderen Kontinent und hört eine völlig unbekannte Sprache, die wie ein trauriges Lied klingt. Regis' drei Kugelspucker sind Angolaner, die Portugiesich sprechen.

Nach jenem Polizeieinsatz, bei dem der Türstock von Regis' Wohnung, die nun meine ist, eingedrückt wird, ist auch Regis weg. Aber er wird nicht verhaftet, weil er einfach behauptet, er habe die Wohnung illegal an Afrikaner untervermietet und ergo mit den dabei gefundenen Drogen nichts zu tun. Die Angolaner werden abgeschoben, Regis wohnt jetzt bei seiner Freundin. Ich durchsuche beim Einzug gründlich die Wohnung. Die Polizeihunde sind jedoch gründlicher. Manchmal geht Konstantin durch das Zimmer, zeigt in verschiedene Richtungen und sagt: "Fische! Fische!"

ENDE

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Aysel Stern

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Zaungast_01

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