NASENKRISE IN MEINER GASSE – weitergehts

Meine bisherigen Eingriffe in Nedjads Wirklichkeit verursachen nur Irritationen. Zugegebenermaßen habe ich dabei auch die Leben von Sylvia, Roberto und Mario irritiert. Nur der Typ, der vor dem Plasmaschirm hockt, ist für mich leider unerreichbar. Ich tröste mich mit der Theorie, dieser dritte Mitbewohner in Nedjads WG sei eben der Zugedröhnteste von ihnen allen.

Aber auch ich bin irritiert. Ich muss mich ernsthaft fragen, ob das, was ich da treibe, krank ist. Denn, wenn es eine Krankheit ist, dann sind die Symptome äußerst amüsant – und: es tut überhaupt nicht weh!

Das heißt: nicht mir.

Nedjad schon.

Meine letzte Irritation (siehe Teil 1) bewirkt, das Nedjads linke Kniescheibe mit dem berühmten Hammer seines Oberdealers Samir bekannt gemacht wird. Die Über-die-Straße-Brüll-News besagen zwar, Nedjad habe einen Unfall erlitten – von einer Treppe ist die Rede.

Aber ich weiß: es ist Samirs Hammer. Und tatsächlich, als Nedjad heute morgen zur Kontrolle in das Unfallkrankenhaus Meidling humpelt, ist Sylvia gezwungen, ihre Nasenbestellung Mario zuzubrüllen. Dabei entpuppt sich Mario als Tratschgurke...

Jedenfalls wissen Roberto und Sylvia nun zwei Dinge: ihre Bestellung ist ordnungsgemäß aufgenommen, weil von nun an Samir, der Oberdealer, nur noch mit Mario Geschäfte macht. Nedjad aber, darf, sobald er nicht mehr so humpelt, die Ware hin - und die Marie her tragen. Wenn Mario keinen Bock hat, dann darf Nedjad schon mal am Fenster Bestellungen entgegennehmen.

Und: Ja! Nedjads linke Kniescheibe ist ungeschickterweise mehrmals  gegen Samirs Hammer gedonnert. Also: ein Arbeitsunfall!

Am Abend kann ich dann zwei neue Seiten an Mario erkennen. Es ist Sadismus gepaart mit Schadenfreude.

Ich merke: Mario hat schon an diesem Abend keinen Bock, selbst zum Fenster zu gehen. Er schickt Nedjad zum Fenster, um Sylvia und Roberto wichtige Informationen über die geschätzte Ankunft von Samirs Taxi, den Tagespreis und die Qualität zuzubrüllen.

Während Nedjad zum Fenster humpelt, schneidet Mario hinter seinem Rücken Schmerzgrimassen und schlägt sich mit einem imaginären Hammer auf das Knie. Er weiß, das Sylvia seine kleine pantomimische Darbietung sehen kann.

Nedjad hingegen, deutet Sylvias Grinsen als positives Signal auf dem Weg zu Sylvias Höschen. Weswegen auch Nedjad grinst.

Nach dem geschäftlichen Teil des Gebrülles über meine Gasse, plaudert Nedjad weiter mit Sylvia. Sylvia muss das  Plaudern über sich ergehen lassen – wer will schon seinen Dealer verärgern? Das Unerträgliche an Nedjads „Plaudern“ ist die schlichte Tatsache, das Nedjad einfach jeden – aber wirklich jeden – Gedanken der ihm in den Sinn kommt, sofort als Sprache manifestiert. Dadurch ist Nedjads „Plaudern“ ein Monolog.

Im Schwurbelsprech.

Nedjad: „...dann war ich Unfallkrankenhausmeidlingultraschall he kann was Rengen echt mit Bild habich Knochengesehn ja Kniewirdgut kann was warbuntes Bild habich Adern Knochen Lingament und alles..“

Es wird Zeit, Nedjad mit seiner Spreche zu konfrontieren. Dazu ist eine Beratung mit Alex dem Liguster notwendig. Wie immer, weiß Alex genau, was zu tun ist. Und Alex hat das richtige Gerät. Das hole ich morgens ab.

Mit meinem neuen Spielzeug beladen fühle ich mich wie einst: Als kleiner Junge auf dem Rückweg vom Modellbaufachgeschäft, die Schachtel mit einer „Mirage“ der Französischen Luftwaffe vom Modellbauer „Revell“ unter dem Arm. „Mirage“ heißt die „Fata Morgana“ auf Französisch.

Ein Trugbild, ein Gespenst, eine Täuschung aus Luft und Hitze...

Und genau das sehe ich, als ich um die Ecke biege und noch wenige Meter mich vom Haustor trennen. Da, vor meinem Haustor parken zwei Funkstreifen und ein fahrbares Gefängnis Marke „Volkswagen Transporter“. Das kann nur eine Fata Morgana sein! Wenn nicht, dann bedeutet dies, das Ende meiner Irritation. Zehn Polizisten betreten mein Haus, gehen zielstrebig durch den Hof und ich folge ihnen. Wir kommen alle gleichzeitig in den ersten Stock. Nun stehe ich mit zehn Polizisten vor meiner Haustüre. Sie sehen mich finster an.

Einer sagt: „Wenn Sie do wohnen, dann gengan´s schnö eine! Gefoa in Verzug! Befolgen Sie meine Anweisung!“

Ich sperre auf, trete in meine Wohnschachtel, sperre zu – und lausche...

Energisches Klopfen an der Türe meines Nachbarn. Gemurmel. Die Türe geht auf. Gemurmel. Stille. Gemurmel...

Nach einer halben Stunde betritt mein Nachbar das fahrende Gefängnis von Volkswagen. Er hat einen Rucksack und zwei Reisetaschen. Wahrscheinlich wusste mein Nachbar längst, dass er zurück nach Afrika abgeschoben wird. Er leistet keinen Widerstand.

Uffff!

Arme Sau, denke ich. Hmmm... In seiner Wohnung ist ein Zimmer mehr... ich muss morgen sofort die Hausverwaltung anrufen...

Arme Sau, denke ich...

Am selben Abend...

Bisher waren meine akustischen Irritationen sehr erfolgreich, weswegen ich dabei bleibe.

Für meine nächste Irritation brauche ich die Mitarbeit und Güte von Alex dem Liguster. Alex ist Techniker bei einem TV Sender und hat Zugriff auf das entscheidende Stück Hardware: ein Sennheiser Richtmicro. Mit diesem Modell kann man das Flüstern eines Kindes auf 800 Meter Distanz aufzeichnen. Das ist viel mehr Power als ich brauche. Darüber hinaus stattet mich der Liguster mit Software und Ratschlägen aus der wunderbaren Welt der Akustik aus.

In meiner Wohnung packe ich das Teil vorsichtig aus und baue es zusammen. Ich fühle mich wie damals, als ich als kleiner Junge die „Mirage“ der französischen Luftwaffe zusammenbaue. Deswegen benenne ich diese Irritation: „Action Mirage“ (Aussprache: aksion mirasch).

Eine Mirage aber ist eine Luftspiegelung. Eine Fata Morgana, TV für Beduinen…

Der Plan ist einfach: ich erzeuge ein Echo.

Aber nur wenn Nedjad aus dem Fenster brüllt. Alle anderen Brüllenden, bekommen kein Echo verpasst.

Technisch gesehen ist alles einfach. Das Micro zeichnet Nedjads Gelaber auf und die Software im Laptop hat einen „Echoe Button“. Wenn ich den anklicke, schickt die Software Nedjads Stimme als Echo in die Boxen. Die Tarnung ist schwieriger, weil das Mikro fast einen halben Meter lang ist und einen Reflektor mit 30 cm Radius hat. Ich bringe das  Sennheiser daher in der Tiefe des Raumes unter. Hier ist es dunkel, das Micro zielt genau auf Nedjads Fenster.

Ich warte…

Nicht lange.

Nedjad erscheint am Fenster. Er pfeift. Ich hebe meinen Finger über das Touchpad. Jeden Augenblick wird Sylvia zum Fenster gehen, Nedjad wird einen Wortschwall auf sie loslassen und mein Finger wird sich ebendann auf das Pad senken…

Etwas großes, schwarzes fliegt an meinem Fenster vorbei und knallt dumpf auf den BMW des Arztes vom Psychosozialen Notdienst im Erdgeschoß unter mir. Mein Finger schlägt im Reflex auf das Pad und das schmerzerfüllte Aufjaulen eines Hundes hallt als Echo durch meine Gasse.

Es ist der Hund von Sylvia. Ein schwarzer Pit Bull.

Und er ist soeben aus Sylvias Fenster im zweiten Stock gesprungen.

Nun liegt er am Gehsteig, zwischen Hauswand und BMW und brüllt den Schmerz gebrochener Knochen in die Gasse, während sich eine Menschentraube um ihn versammelt. Das nächste Echo erzeugt Sylvias Kreischen, als sie an ihr Fenster stürzt und kapiert, was geschehen ist.

Ich schlage mit dem Finger auf das Pad und das Echo verstummt.

Nun hängen aus fast allen Fenstern in Sichtweite meines Hauses Menschen und verfolgen die Tragödie eines unschuldigen Tieres. Nedjad und Mario sind schon beim Hund, der dritte Mann aus ihrer WG bleibt vor dem Plasmaschirm. Schluchzend gesellt sich Sylvia dazu, dann Roberto und immer mehr Passaten.

Bald ist die Tierrettung da, der Hund versorgt und verstaut.

Stille kehrt in meine Gasse ein.

Ich löse sämtliche Kabel von meinem Laptop, demontiere das Sennheiser und frage beim Liguster nach, ob ich das Zeug einen Tag länger haben kann. Weil er meint, ich könne es die ganze Woche behalten, packe ich das Micro nicht in seine Schachtel, sondern schiebe alles griffbereit an die Wand.

Morgen ist auch ein Tag. Morgen werden Sylvia und Nedjad viel zu bequatschen haben.

Morgen ist mein Tag.

Oder?

Leider nein!

Am nächsten Morgen wecken mich Lärm und Tumult im Stiegenhaus. Trampeln, Männerstimmen, Sylvias Stimme. Aus dem Fenster sehe ich, wie Sylvia in ein Polizeiauto gesteckt wird. Es ist erst sieben Uhr früh und Nedjad´s WG scheint nichts von diesem Vorfall bemerkt zu haben.

So lehne ich am Fenster, rauche und denke nach, wieso Sylvia verhaftet wird, während eine Dealerpartie friedlich abpennt? Kommt die Polizei jedes Mal, wenn ein Hund aus dem Fenster springt?

Die Antwort bekomme ich zwei Stunden später.

Erst als das Überfallkommando, verstärkt durch eine Abteilung Drogenfahnder zur Gänze in ihrer Wohnung steht, wachen Mario und Nedjad auf. Nur der Typ am Plasmaschirm bleibt wo er ist. Wahrscheinlich weil einer der Rambos gerade mit so einem roten Punkt auf seine Stirn zielt.

Ob der Typ das überhaupt mitbekommt?

Widerstand – so merken es die beiden anderen – ist zwecklos! Bald wedeln die Drogenfahnder mit diversen Säckchen und Päckchen vor ihren Nasen, legen sie in Handschellen und stecken sie in genau so ein fahrbares Gefängnis, wie meinen afrikanischen Nachbarn eine Woche zuvor.

Am Ende schalten die Bullen den Plasmaschirm ab, heben den Typen der davor sitzt zu zweit hoch und tragen ihn in sitzender Körperhaltung zum Arrestantenwagen. Ich habe den Eindruck, er glaubt sich in eine besonders reale Reality-Show reingezappt zu haben.

Was diese Ereigniskette vom selbstmörderischen Hund bis zur Aushebung dieses, wie es ein kleinformatiges Schmierblatt ausdrückte – „Multi-Kulti-Drogen-Netzwerks in Meidling“ – ausgelöst hat, erfahre ich Stück für Stück im Laufe der nächsten Woche.

Einiges erzählt mir Sylvia nach ihrer Anzeige auf freiem Fuße. Aber um die ganze Geschichte zu erfahren, muss ich mich erst bei Roberto einschleimen und heucheln, ich fände es fies von Sylvia, auch Robertos Namen genannt zu haben, sodass nun auch er eine Anzeige auf freiem Fuße am Hals hat.

Es ist so: mit der Zeit kann man als Dealer jeder Koksnase vorgaukeln, das soeben gekaufte Kokain sei viel besser als das Letzte. Einfach indem der Dealer mehr billiges Speed, also: Amphetamin, und weniger (teures) Kokain in das Briefchen mischt. Damit wird seine Spanne größer und die Koksnase kann tagelang nicht schlafen – so gut ist das Koks! Danke, danke Dealer!

Am Wochenende des Fenstersturzes beschließt die junge Sylvia es sich bis zum Riß der Nasenscheidewand zu besorgen. Und weil das Koks diesmal besonders gut sein soll – so hat es ihr Nedjad über die Gasse zugebrüllt – kauft sie auch ein Gramm in Robertos Auftrag. Am Abend will Roberto sein Briefchen abholen. Doch dazu kommt es nie.

Sylvia beschließt Roberto ein wenig zu bescheißen. Eh nur um ein viertel Gramm…

Die Gier der Koksnasen kennt keine Grenzen, wenn es um wirklich gutes Koks geht. Genauso wie ihre Dummheit.

Weil sie es in einem Film so gesehen hat, ersetzt sie das viertel Gramm in Robertos Briefchen mit Staubzucker. Diese Operation führt Sylvia auf ihrem Coutchtisch durch, indem sie Robertos Koks auf der Tischplatte auflegt, mit einer Kreditkarte zerkleinert und mit dem Staubzucker vermischt.

Dann wird Sylvia durstig, geht in die Küche.

Inzwischen leckt der Hund das süße Zeug auf. Und das unsüße Zeug darin brennt in seiner Kehle, fährt aber sofort auch in sein Kamphundgehirn ein. Als ganze Tagesdosis eines 75 Kg schweren Gewohnheitskoksers auf ein Mal.

Aus dem Haus gegenüber pfeift genau in diesem Augenblick Nedjad.

Und der brave, brave Hund folgt mit brennender Kehle dem Ruf seines besten Freundes – des Menschen. Auf das er ihn von dieser Plage in Kehle und Hirn befreien möge.

Armer, braver Hund.

Im Tierheim, wohin die Tierrettung den Hund nun bringt, wundert sich der Veterinär, das dieses Tier mit gebrochenen Hinterläufen, nach wie vor munter ist, obwohl er ihm Valium für Nilpferde gibt. Deswegen nimmt er eine Blutprobe und findet darin viele, viele Amphetamine. Daraus schließt der Tierliebe Arzt, er habe es mit illegalen Hundekämpfen zu tun, weil man ja die Hunde für diesen Sport mit Amphetaminen aufputscht.

Also verständigt der brave, brave Kuhdoktor die Behörden, diese holen Sylvia ab, Sylvia verpfeift alle.

Auch Roberto. Es war ja sein Speed…

Dieser Tage sehe ich Sylvia mit einem Welpen im Arm in unserem Stiegenhaus. Damit tröstet sie sich bis zu ihrer Verhandlung. Die Reparatur des alten Hundes wäre zwar möglich, hätte aber 1600 Euro gekostet. Eine Einschläferung nur 60.

Und eine neuer Hund beim Ungarn auf dem Autobahnrastplatz läppische 150 Euro.

Das ist das Ende der Nasenkrise in meiner Gasse.

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Liebe Zeit

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Zaungast_01

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Markus Andel

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