Ganz ehrlich, mein lieber Leser...
Die Frage meiner Freundin, ob ich nicht schon genug Albträume in meinem Schädel habe und ob ich es jetzt tatsächlich als notwendig erachte, noch ein Buch über echte Mörder und Vergewaltiger zu schreiben, war berechtigt und trifft mich jetzt, wo ich dieses letzte Kapitel schreibe. Ich habe echte psychische Schwierigkeiten diesen Text zu verfassen. Der Grund ist einfach: Ich bin selbst ein Zeuge einer – hm – Zwangsrekrutierung unter Flüchtlingen. Damals ist alles genau so, wie in so vielen Erzählungen von anderen Zeugen über andere Zwangstrennungen von Familien.
Es ist Nacht. Ich bin in der Macchia versteckt, die rund um das Flüchtlingslager wuchert. Die Käfer die mir in die Kleidung kriechen, die Gelsen und die zerquetschte Schnecke auf der ich liege merke ich fast nicht. Weil das Geschrei und das Weinen von 16-Jährigen Burschen und ihren Müttern alle meine Sinne einnimmt. In diesem Fall ist es die kroatische Polizei, die mitten in der Nacht mit Autobussen und Namenslisten vor das Lager fährt. Sie haben den Auftrag alle wehrfähigen kroatisch-bosnischen Flüchtlinge ab 16 Jahren Lebensalter für die kroatisch-bosnische Armee HVO (Hrvatsko vijeće obrane) zu rekrutieren und in den Bussen an die Front zu bringen.
Als die Sonne den Himmel rosa färbt, sind die Busse und die Knaben weg. Das Weinen und Wehklagen der Mütter ist aber lange nach Sonnenaufgang noch immer da. Und ich weine heute, 25 Jahre später, während ich diesen Text schreibe, weil diese Nacht mich noch immer quält.
In Srebrenica ist diese Szene viel brutaler und massenhafter geschehen, als in jener Nacht, deren Zeuge ich bin. Dir das zu beschreiben steht mir jetzt bevor.
Und danach werde ich nie wieder über diesen Krieg schreiben.
Die Iden des Märzens in Srebrenica
Bis zum offenen Kriegsbeginn in Bosnien 1992, leben - grob gesagt - in der Gemeinde, deren Mittelpunkt die Kreisstadt Srebrenica ist, zu einem Drittel orthodoxe Serben und zu zwei Dritteln Muslime. Am Ende des Krieges, im Sommer 1995 sind die einzigen Serben in der Gemeinde Srebrenica die Mörderbanden von General Mladić.
Vor dem Krieg lebt man in der sozialistischen Utopie von der Brüderlichkeit und Einigkeit der Ethnien in Jugoslawien. Kurz vor dem Krieg beginnen auch hier die Teilungen, Anführer beider Seiten predigen den Opfermythos der eigenen Seite, dem es entgegen zu treten gilt. Die ersten Toten lassen nicht lange auf sich warten. Es ist egal, ob der erste Tote ein orthodoxer Serbe oder ein Muslim ist – in diesem Fall ist es ein „Serbenführer“ oder besser gesagt ein serbisches Faschistenschwein, dass aus einem Hinterhalt ermordet wird. Die Eskalation wird unvermeidlich, die Serben bekommen Waffen von Milošević, die Muslime bewaffnen sich so gut sie können, etwas steuert Izetbegović bei. Die Situation mündet – nach gewohntem und gewolltem Schema - in Scharmützel zwischen „Milizen“, „Freischärlern“ und „Patrioten“ beider Seiten.
Und dann schickt Alija Izetbegović den Spezialpolizisten Naser Orić nach Srebrenica. Er soll die Lage unter Kontrolle bringen und das Territorium für die bosnische Regierung halten. Beides gelingt ihm binnen kurzer Zeit: Auf dem Höhepunkt seines Einsatzes erobert und hält Naser Orić 900 Quadratkilometer Territorium rund um Srebrenica und seinem Heimatort Potočari.
Doch diese 900 Quadratkilometer sind auch „serbenrein“. General Phillipe Morillon entgeht dieses „Detail“ nicht, aber das Gericht in Haag findet nicht genug Beweise, um Orić zu verurteilen. Carla Del Ponte, die berühmteste Chefanklägerin des Haager Tribunals war und ist überzeugt, dass Orić Schuld auf seinen breiten Schultern trägt, weswegen sie Einspruch gegen den Freispruch einlegt – erfolglos.
Im Kessel
Nachdem Orić das Territorium absichert, beginnt die serbisch-bosnische Armee eine Würgestrategie: Weil ja keine serbische Bevölkerung existiert, schadet man nur „dem Feind“, wenn man Srebrenica von der Welt abschneidet – und die Welt sieht dabei zu. In diesem Fall besteht der „Feind der Serben“ hauptsächlich aus Greisen, Frauen und Kindern, unbewaffneten Männern und einigen Tausend bewaffneter, schlecht ausgerüsteter – Nichtserben. Den Eingeschlossenen gehen Vorräte und Munition aus. Die Anzahl der Menschen innerhalb der Stadt wächst enorm an, weil die serbisch-bosnische Armee Stück für Stück die Schlinge enger zieht, sodass die 900 Quadratkilometer immer mehr zusammenschmelzen.
Versuche der UN, die Eingeschlossenen aus der Luft zu versorgen, geraten zum Hasenschießen für die serbisch-bosnischen Scharfschützen: Die Abwürfe sind so unpräzise, dass Nahrungsmittel und Medikamente oft in Gebieten landen, die von serbisch-bosnischen „Sniper“ eingesehen werden. In ihrer Verzweiflung versuchen Menschen aus Srebrenica trotzdem an den Inhalt der Container zu gelangen und werden dabei zu Dutzenden erschossen. Die Schlinge zieht sich von 1992 bis zum 11. März 1993, dem Tag als General Morillon zu den Menschen in Srebrenica spricht, langsam und sicher zu. Erst als diese Bilder um die Welt gehen, beschließt die UN, eine Schutzzone Srebrenica auf den noch verbleibenden Gebiet von Orić-s serbenfreier Zone zu errichten. Allerdings kümmert das General Mladić und seine politischen Herren nicht die Bohne – sie beginnen systematisch aus Srebrenica die Hölle zu machen, deren bloßer Vorhof sie bis zu diesem Zeitpunkt ist.
Nachdem Morillon abfährt, rücken Holländische UNPROFOR Einheiten unter Oberst Karremans ein und errichten ein Camp in Potočari, nahe Srebrenica. Bis zum Massaker werden sich drei Touren der "Peacekeeper" abwechseln: DUTCHBAT I bis III. Die serbisch-bosnische Armee und die Einheiten serbischer Warlords (z.B. Die „Skorpione“ des Slobodan „Boca“ Medić, (1966 - 2013)) erschweren systematisch die Lage in Srebrenica. Wenn Soldaten des DUTCHBAT die Zone verlassen, um Vorräte und Medikamente zu Holen, wird ihnen die Rückkehr verweigert. Andererseits dürfen Frauen und Kinder die Zone gar nicht verlassen.
So dünnt General Mladić das Kontingent von Karremans aus und erzeugt eine kalkulierte humanitäre Katastrophe wie Cäsar bei Alesia. Bald gibt es erste Tote, die nicht auf das Konto von Kugeln, Messern oder Granaten gehen – sondern dem Hunger anheim fallen.
Alle vier Reiter der Apokalypse sind nun in Srebrenica angekommen. Und sie bereiten sich auf ein Blutfest epischen Ausmaßes vor.
Und die Welt sieht weiter zu.
Blauhelme in Ketten
Gleichzeitig geschieht etwas, dass auf den weiteren Verlauf des Schlachtfestes von Srebrenica entscheidend wirken wird. Es ist auch das erste Glied des Versagens der UN: Eine Art „Strafbombardierung“ der Infrastruktur der Republika Srpska wird beschlossen und angefangen.
Doch Radovan Karađić lässt einfach Blauhelme gefangennehmen und an Laternen vor Kraftwerken, militärischen Objekten und wichtigen Straßenkreuzungen anketten. Motto: „Bomb your own, UN!“. Diese Geiselnahme wirkt auf die Mitgliedsstaaten der UN wie die berühmte Cobra auf den ebenso berühmten Hasen. Man wendet sich bittstellend an Milošević (eine Peinlichkeit und ein Akt der Feigheit sondergleichen – diese Bemerkung wirst du mir erlauben), der milde lächelnd „Den Eisigen" Jovica Stanišić und "Frenki" Simatović nach Pale schickt, um Karađić zur „Vernunft“ zu bringen.
Doch bis es soweit ist, wirkt die selbe Erpressung auch bei Srebrenica: Als die NATO einen einzigen von Mladić-s Panzern auf Anforderung von Karremans erfolgreich bombardiert, genügt die Drohung, einige der in Geiselhaft befindlichen Blauhelme könnten weitere Luftangriffe mit dem Leben bezahlen, damit man Karremans die Luftunterstützung streicht und ihn damit in Stich lässt. Bedenke: Noch ist Karremans kein Feigling, sondern ein von der Politik im Stich gelassener Soldat. Seine Feigheit offenbart sich erst später und ich werde dir davon berichten.
Zurück zu den Geschehnissen in Srebrenica und Potočari.
Der Papiertiger
Nachdem die UN vor sämtlichen verbrecherischen Erpressungen einknickt wie ein Strohhalm, dreht die serbische Führung in Bosnien die Schraube weiter: Damit die Schutzzone auch de Jure eine ist, wie es die UN Resolution vorsieht, müssen die kämpfenden Parteien ihre Waffen abgeben, alle Waffengewalt darf nur von der UNPROFOR ausgehen. Du ahnst wie es weitergeht, oder? Indem die Serbenführung darauf pocht, erzeugt sie Druck auf die UN – die wieder einknickt und beginnt, die muslimischen Kämpfer von Srebrenica zu entwaffnen. Selbstverständlich geben die serbischen Kräfte ihre Waffen nicht ab, sondern verzögern, behindern oder ignorieren schlicht die Waffenabgabe – sei es ruhig gesagt: Sie verarschen die UN und die ganze freie Welt mit großem Erfolg.
So gelingt es der serbischen Seite nicht nur die Kräfte des DUCHBAT III auszudünnen, sondern auch die Waffen der Muslime in entscheidender Menge aus der Gleichung zu werfen. Viele Muslime weigern sich ebenfalls ihre Waffen abzugeben, weil sie inzwischen erkennen, dass der Strohrohalm UN, an den sie sich all die Zeit klammern, in Srebrenica immer wieder einknicken wird. Sie wollen schlicht nicht wehrlos wie Schafe zur Schlachtbank geführt werden, wie es bald über 8000 ihrer Mitmenschen geschehen soll. Sie erkennen, dass General Morillon´s Versprechen soeben von der UN gebrochen worden ist.
Nun ist Mladić zu seiner Zufriedenheit aufgestellt und kann den letzten Angriff auf die verbliebenen 150 Quadratkilometer der Schutzzone beginnen. Wie immer bei ihm, läuft alles nach Lehrbuch: Logistik und Luftüberlegenheit sind gesichert, der Feind so schwach wie nie zuvor, die Weltgemeinschaft wird schon Kuschen, wie bisher.
Das Blutfest kann beginnen!
Schokolade und Schnaps
Als Mladić Karremans wissen lässt, er werde auf die Blauhelme auf den Checkpoints und Roadblocks schießen, beginnt die Feigheit des Kommandanten von DUTCHBAT III. Er versucht gar nicht erst zu verhandeln oder, besser noch, stur auf dem Mandat der UN zu beharren und Mladić wissen zu lassen, seine Soldaten würden zurückschießen, wenn die serbisch-bosnische Armee vorrückt und sie dabei beschießt. Mit etwas mehr Kraft und politischem Gespür – und Mut – hätte Karremans durchaus erkennen können, dass Mladić-s Drohung auch ein Bluff ist: Tote Blauhelme in Srebrenica passen genau zu diesem Zeitpunkt weder Milošević noch Karađić.
Doch weder der Mut oder die Menschlichkeit, seinen Auftrag als Soldat – trotz Versagens der Politiker, die ihn hier her gesendet haben – noch die Idee, selbst zu Bluffen, kommt Karremans je in den Sinn. Er knickt einfach ein, wie die UN.
Mit etwas mehr Standhaftigkeit von Karremans, hätte das Verbrechen von Srebrenica vielleicht noch verhindert werden können. Aber Karremans trinkt Schnaps mit Mladić. Und Mladić verteilt anschließend Schokolade an die vor Angst zitternden Muslime von Srebrenica – die Filmaufnahmen und seine Worte der geheuchelten Beruhigung, es werde ihnen nichts Böses geschehen, gehen um die Welt. Genauso wie die Filmaufnahmen eingeschüchterter Blauhelme des DUTCHBAT III die von den Leibwächtern des serbischen Generals buchstäblich zur Seite geschubst werden, damit die Kamera General Mladić beim Verteilen der Schokolade besser ins Bild rücken kann.
Warum ich Karremans einen Feigling nenne, sollst du nun erfahren.
Deines Bruders Hüter
Karremans Integrität als Mensch und UN-Offizier bricht vollends zusammen, als Mladić von ihm verlangt, auch die muslimischen Übersetzer auszuliefern, die Zivilisten sind und von der UN mit Vertrag beschäftigt werden – also unter den direkten Schutz der UN fallen! Auch hier knickt Karremans ein und liefert alle Zivilangestellten aus.
Hier gerät für mich Oberst Karremans zum totalen Feigling. Sein einziger kriegerischer Akt in der Tragödie von Srebrenica besteht darin, zwei Mal Luftunterstützung angefordert zu haben. Als er dann die Übersetzer ausliefert ohne auch nur den Hauch von Protest zu wagen, verliert er nicht bloß Srebrenica sondern wird zum Erfüllungsgehilfen gewissenloser Mörder. Weil er auch noch tatenlos bleibt obwohl vor den Augen seiner Soldaten die ersten Vergewaltigungen und „kleinen“ Morde „im vorbeigehen“ geschehen, kann ich ihn nicht einmal Nackt respektieren.
Der selbstgesetzte Auftrag der UN als Hüter schwacher und angegriffener Brüder unter uns Menschen zu sein, ist in Srebrenica so grandios gescheitert, wie gleichzeitig in Ruanda. Und wie oft zuvor und oft danach. Wenigstens rafft man sich später auf und bringt die Knochen zum Vorschein und die meisten Täter vor Gericht. Auch die Knochen der Opfer und die Täter aus Ruanda, deren Viele – das soll hier noch gesagt werden – aus den Reihen der katholischen Geistlichkeit stammen, darunter ein Bischof.
Genozid oder nicht?
Darüber scheiden sich die Geister. Vorneweg meine Meinung dazu: Ja! Srebrenica hat alle Merkmale eines Genozids! Allerdings nicht, was die UN und das Haager Tribunal anbetrifft. Weswegen ich hier sagen muss, dass offiziell im gesamten Krieg nichts geschehen ist, was man als Genozid bezeichnen kann.
Allein der Modus Operandi nach der Einnahme der Schutzzone sagt alles: Autobusse und Lastwagen stehen schnell bereit, die Opfer zu den Richtstätten zu führen, Bagger und Grabgerät steht bereit, Erschießungskommandos sind schnell bereitgestellt und oft werden die ersten Gruppen der Opfer bereits „begraben“, während andere noch auf ihre Erschießung warten. Ein Szenario wie aus Babi Yar.
Geradezu Alles in, an und um Srebrenica schreit laut : GENOZID!