Teil zwei meiner Betrachtung darüber, wie Netzfirmen und ein dummes Netzgesetz den Faschismus unterstützen und wie ich meine erste 30-Tage-Sperre provozierte
"Die Zensur ist die jüngere von zwei schändlichen Schwestern, die ältere heißt Inquisition." (Nestroy)
Hallo ... ich habe sechs Araber ermordet!
Manche sagen mir, die Begegnungsorte im Netz seien gar nicht dazu erfunden worden, um Meinungsäußerungen anzubringen, und da gebe es auch keinen Anspruch darauf. Meine Erwiderung: Der Buchdruck ist auch nicht erfunden worden, damit ein notorischer Antisemit und Frauenhasser eine weitere christliche Sekte gründet. Oder damit Solschenizyn uns von den Schrecken der Gulaginseln berichtet. Oder damit Hitler seinen Gehirnkrampf unter die Leute bringt.
Ganz offensichtlich sucht "Die Meinungsäußerung" sich selbst Wege, da, wo sie sich auftun, vielleicht so, wie die Wurzeln eines Baumes. Sie fragt gar nicht erst, ob eine Erfindung für sie gedacht ist oder nicht: Wo sie kann, da dringt sie vor. Und schon gar nicht fragt "Die Meinungsäußerung", ob hier ein Anspruch besteht oder nicht: Es ist ihr egal – und das ist gut so!
An dieser Stelle sei mir eine kurze Digression erlaubt – zum Anrufbeantworter, der eine Erfindung zum Aufzeichnen von Nachrichten ist. Ganz ähnlich wie ein katholischer Beichtvater – so denkt zumindest der amerikanische Künstler Allan Bridge und richtet Anfang der 80er-Jahre einen säkularen Beichtstuhl ein. Unter der Rufnummer (212) 255-2748 kann jeder Amerikaner anonym einem Anrufbeantworter von Mr. Apology böse Taten beichten. Neben kleinen und großen Diebstählen, absichtlich überfahrenen Nachbarshunden und Betrügereien findet sich auch diese erschütternde Beichte: "Ich will mich entschuldigen. Ich weiß nicht einmal, ob das, was ich getan habe, falsch oder richtig war, aber als ich für sechs Monate in Israel war, habe ich sechs Araber ermordet, nachts, mit einer Gruppe anderer jüdischer Siedler. Wir dachten damals – ich glaubte daran –, dass wir für unsere Heimat kämpfen, um sie von den Arabern zu bewahren. Aber jetzt, da ich zurück in Amerika bin, begreife ich, dass Mord vielleicht nicht der richtige Weg ist, und ich will mich entschuldigen."*
Inzwischen wird das Archiv von Mr. Apology von seiner Witwe betrieben und umfasst hunderttausende Beichten. Nur der bis heute unbekannt gebliebene Mann, der 1995 Allan Bridge mit seinem Jetski überfährt, ist noch nicht dabei.
Katzen hassen
Heiko Heinisch postet ein Katzenfoto auf seiner Wand, und einige von uns melden es als Meldemeute wegen "Hatespeech" gegen religiöse Minderheiten.
Doch es geschieht nichts. Offenbar ist der Löschroboter nicht ganz so dumm. Also versuche ich etwas anderes.
Den Anlass bietet Erdoğans Ankündigung des neuen türkischen Ehegesetzes, das das Heiratsalter für Mädchen auf neun Jahre herabsetzt. Ich bearbeite (mit Paint!) die Titelseite einer bosnischen Zeitung. Darauf ist eine Montage zweier Motive zu sehen: Im Vordergrund steht ein nacktes Mädchen (von hinten), ihre Hände sind am Rücken gefesselt, Scham und Brust sind nicht sichtbar. Im Hintergrund sind schemenhaft Männer in einem Halbkreis sitzend zu sehen, die das Mädchen (von vorne) betrachten. Ich lösche den Titel und füge eine plumpe Botschaft ein: "Fly T....sh Airlines and rape a child – but don't forget to pray!"
Prompt erfolgt eine Woche später die Löschung. Nicht weil ich eine Fluglinie beim Namen nenne, nicht weil ich auf staatlich verordnete Pädophilie verweise – sondern wegen Nacktheit!
Nur wenige Tage nach dieser Löschung hat das Gesichtbuch ein Geschenk für mich: Eine kleine Montage aus Bildern der letzten sechs Monate von meiner Wand. Genannt: "Deine Momente im November". In dieser Montage ist ein Mann zu sehen, der sein T-Hemd hochzieht, die Fotos wechseln einander ab: Einige Karikaturen der bekanntesten Religionsgründer und am Ende das Foto der öffentlichen Auspeitschung einer unartigen Frau vor einem sakralen Bauwerk. Danach ein Schriftzug mit besten Wünschen für die kommenden Monate.
So sieht es also aus, wenn ein Roboter zufällig Satire generiert, die er auf Zuruf einer beleidigten Meldemeute löschen würde, wenn ich sie generiert hätte.
Katzen lieben
Während ich auf kommende Löschungen und Sperren warte, lese ich, was andere zum Thema schreiben. Zum Beispiel Heiko Heinisch in einem Artikel für "Die Kolumnisten", wo er auch die Aktion mit dem Katzenfoto beschreibt: "Eine Möglichkeit zum Widerspruch, zur Verteidigung, sucht man vergeblich, die Kommunikation mit Facebook ist in aller Regel eine einseitige: Facebook – Ankläger und Richter in einem – verlautbart sein Urteil, die User/innen haben dieses schweigend zur Kenntnis zu nehmen."
Ich sage: Vielleicht sollten wir dazu nicht mehr schweigen ...
Heinisch berichtet auch von den Erfahrungen bekannter Menschenrechtsaktivisten: "Arif Rahman spricht bei seinen Erfahrungen aus Bangladesch von Reporting-Groups, die Single-Click-Reporting-Links an ihre Mitglieder verteilen. (...) So kommen schnell hunderte, wenn nicht tausende Meldungen zustande. Einem solchen Meldemob ist unlängst auch ein Posting des Autors gegen die Löschpolitik von Facebook, bebildert mit der (...) Mohammed-Karikatur, zum Opfer gefallen. Das Posting war binnen weniger Stunden dutzende Male geteilt worden und hatte offensichtlich die Aufmerksamkeit organisierter Kreise aus dem Umfeld der Union Europäisch-Demokratischer Türken (UETD), einer Erdoğan und der AKP nahestehenden Lobby- und Propagandaorganisation, erregt."
Am Ende liefert Heinisch die knapp und düster formulierte Schlussfolgerung, der ich mich nur anschließen kann: "Auf diesem Weg erhalten die Intoleranten das Recht, politisch Andersdenkende in ihrem Recht auf Meinungsfreiheit einzuschränken, Facebook unterwirft sich der Diktatur der Beleidigten."
Sascha Lobo beschreibt in seinem Artikel im "Spiegel" das Phänomen der "Filterblasen" und die Wirkung der Begegnungsorte im Weltweitnetz auf unseren Alltag und kommt zu folgendem Schluss: "Die Wahrheit ist, dass wir noch zu wenig über die Wirkung sozialer Medien auf die Gesellschaft wissen. Es lässt sich aber abschätzen, dass sie durch ihre Funktion des flächendeckenden Rückkanals eine Reihe von Illusionen platzen lassen, denen Politik, klassische Medien, Meinungsforschung, die ganze politische Öffentlichkeit bisher aufsaßen. (...) Das würde bedeuten: Die sozialen Medien sind viel stärker Indikator und vielleicht Katalysator als Motor einer gesellschaftlichen Veränderung, die sich ergibt, weil die Welt im Detail doch anders ist, als wir – die eher Liberalen, Vernetzten, global Denkenden – dachten. Unsere Selbstverständlichkeiten sind nicht so selbstverständlich wie gedacht oder erhofft. Wir sind selbst eine Filterblase. Und sie platzt."
Ein Aktivist der ganz anderen Art ist der umstrittene deutsche Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel. Manche werfen ihm seine "Abmahnwellen" und seine Meinung über muslimische Flüchtlinge vor. Ich nehme mir das Recht heraus, trotzdem auch seine Meinung zu diesem Thema wissen zu wollen. Er hat eine "Wall of Shame" eingerichtet und prangert dort die Lösch- und Sperrpolitik von Gesichtbuch an. Er sagt: "Ich bin ein großer Fan von Facebook und dessen revolutionären Kommunikationsmethoden. Aber es vergeht kein Tag, an dem man nicht von Löschungen und Sperrungen hört. Viele sind erforderlich und richtig. Viele sind willkürlich, intransparent und bestrafen für die zulässige Wahrnehmung der Meinungsfreiheit. Ein Unding. Man kann Facebook nicht gegen ein ähnliches Medium tauschen. Facebook ist Monopolist."
Bisherige Versuche von Politikern (Stichwort Heiko Maas, Durchsetzungsgesetz) bezeichnet Steinhöfel als "Anhaltenden PR-GAU". Und weil Rechtsanwälte Musterprozessen nicht widerstehen können, will Steinhöfel einen solchen in Angriff nehmen: "Facebook kann nicht machen, was es will. (...) Bei Facebook ist jede politische, religiöse, kulturelle Meinung vertreten. In einem für jeden offenen Forum verletzt eine Sanktion, die aufgrund einer rechtmäßigen Meinungsäußerung verhängt wurde, Zivil- und Verfassungsrecht. Ich gehe davon aus, dass wir dies alsbald in einem Musterprozess grundsätzlich klären werden."
* Mister Apology
Englisches Original: "I want to apologize. I don't know if even what I did was wrong or right, but when I was in Israel for six months, I killed six Arabs at night with a gang of other Jewish settlers. At the time we thought -- I believed -- we were fighting for our homeland to keep it from the Arabs. But perhaps now that I'm here in America, I realize that maybe killing is not the right way, and I want to apologize."