Was Wien anbetrifft, ist die U-Bahn Linie U6 der Schmelztiegel der Nationen dieser Stadt, nur geformt wie ein Schlauch. Für mich ist die U6 aber auch ein fliegender Teppich und jede Station ein Hafen auf Sinbads abenteuerlicher Reise: Gesichter, Kleider und Sprachen aus mindestens drei Kontinenten spülen hinein und hinaus. Am Ende eines anstrengenden Tages, wenn nichts mehr eilig ist, döse ich oft in der U6 und meine Tagträume vermischen sich mit dem Zischen der Türen und Wortfetzen aus dem Gerede Fremder. Manchmal ergibt das eine Vision, eine Art keinen Film, der mich kurz in eine andere, noch weiter entfernte Welt bringt. So wie neulich...
Abraham in der U-Bahn
Es war nur ein schläfriger Lidschlag. Vorher war der Mann noch nicht da, jetzt stand er genau neben mir, hielt sich an der Stange über unseren Köpfen fest und neben ihm stand ein kleiner Junge, der schwitzte. Vater und Sohn an einem heißen Sommertag in der U6. Wieder ein Lidschlag. Der Vater schien mit einem anderen Passagier ein Gespräch fortzusetzen, das wohl anfing, bevor sie zwischen zwei meiner Lidschläge in der U-Bahn erschienen sind.
"... und mitten in der Wüste, gibt der Land Rover seinen Geist auf! Undichte Ölwanne! Alles Öl pfutsch! Selbst schuld! Ich hätt´ die Kraxn schon auf dem Parkplatz, bei der Autovermietung von Unten anschauen sollen! Nur Faulheit – ich sag´s Ihnen!"
Beim Sprechen hielt der Vater seinen Sohn so fest an der Hand, das die Knöchel des schwitzenden Kindes bläuliche Farbe angenommen hatten. Aber offenbar konnte nur ich das sehen. Der Vater setzte seine Schilderung einer beschissenen Lage im Wüsten-Erlebnis-Packge seines letzten Urlaubs ungerührt fort.
"Angst? Nicht sofort! Ich bin ja ein Tourist! Die gehen öfter mal in der Wüste verloren und da gibt es so einen Suchdienst mit Hubschraubern... Aber dann dachte ich an den Schrott, den sie den Touristen als "Wüstenfahrzeug" vermieten! Wenn diese Hubschrauber auch... - Na ja! Was solls! Ich bin Optimist, wissen Sie! Immer schon gewesen!"
Jetzt wollte auch ich wissen, wie der Vater aus dem Wüstendrama erretet wurde. Aber in den Augen des kleinen Jungen erkannte ich etwas, das meinen Blick auf seinem Gesicht festnagelte. Es war Angst. Irgendetwas oder Irgendjemand in unserer unmittelbaren Umgebung ließ den Jungen vor Angst zittern. Und schwitzen. Ich wollte ihn fragen, was los sei, aber mein Mund war wie zugewachsen. Die Stimme seines Vaters wurde nun salbungsvoll, wie eine Rezitation.
"Und dann hörte ich die Stimme! Sie kam von überall gleichzeitig: Aus meinem Kopf und von Außerhalb, aus der Wüste und aus dem Wind... aus dem Himmel..."
Das Stimmengewirr im Waggon verstummte. Niemand von den Passagieren plauderte und tratschte mehr, alle richteten ihren Blick auf den Vater und lauschten seinen Worten. Das Licht im Waggon war plötzlich gedimmt, außer einem Spotlight, gerichtet auf das Gesicht des Vaters.
"... ja auch vom Himmel! Denn es war die Stimme des Herrn, unseres Gottes, der da unsichtbar zu mir sprach!"
Der Vater mußte an dieser stelle Luft holen und in der dramatischen Pause seiner Erzählung konnte ich den Chor der Passagiere hören.
"Was sprach der Herr, unser Gott zu Dir?"
Es schien niemanden, zu irritieren, das ein Waggon der U6, irgendwo zwischen Thaliastraße und Philadelphiabrücke, zum Ort einer professionell ausgeleuchteten, religiösen Szene geworden ist - niemanden außer mir und dem kleinen Jungen, der zitterte und angstvoll zu seinem Vater blickte.
"Gott, der unser Herr ist, trug mir auf, erneut in die Wüste zu fahren und genau an jener Stelle, wo es sich begab, dass mein Land Rover krepierte – ein Opfer zu bringen!"
In diesem Augenblick riß der Vater den Jungen an dessen dürrem Arm empor, so mühelos und plötzlich, das mir schien, der Junge sei nur Haut, die mit Popcorn gefüllt ist! Aber der Junge war ein echtes Kind! Er winselte vor Schmerz und Angst!
"Und der Herr, unser Gott trug mir auf, diesen meinen Sohn dort zu Opfern! Ihn zu schlachten wie ein Lamm und ihn zu Asche zu verbrennen, die wir sind! Halelujaaaaaaaaah!"
Nun war auf jedes Gesicht im Waggon ein Spotlight gerichtet und der Chor der Passagiere setzte wieder ein.
"Supeeeeeeeeeer! Erzähl´ uns meeeeehr!"
Der Vater senkte sein Kind abrupt ab und es plumpste zu meinen Füßen auf den Boden des Waggons. Nun sah der Junge tatsächlich wie ein Sack Popcorn aus. Sein Vater aber, kam an den dramaturgischen Höhepunkt seiner Erzählung.
"Und wahrlich, ich sage euch! Dieses Mal, Gott sei mein Zeuge... Dieses Mal werde ich meinen Rücken beugen, in Demut hinknieen und mein gemitetes Wüstenfahrzeug auch von Unten anschauen!"
Auch ich hörte nun eine Stimme, die aus dem Himmel zu kommen schien.
"Dieser Zug wird Aufgrund eines technischen Defektes nur bis Philadelphiabrücke geführt. Ein Schienenersatzverkehr mit Autobussen wird eingerichtet. Wir danken für Ihr Verständniss."
Dann bremste der Zug und ich wachte endgültig aus meinem kleinen U6-Albtraum auf. Zu meinen Füßen lag eine halbvolle Tüte mit Popcorn und ein Mann zerrte verärgert seinen Sohn, der wegen des fallengelassenen Popcorn lautstark protestierte, zu den Türen.
ALSO:
Wenn Du einen Mann sagen hörst, er wolle sein Kind Gott opfern – ruf sofort die Polizei an!