Was uns Ludwig Erhard noch heute zu
sagen hat
Vor 125 Jahren wurde Ludwig Erhard geboren, der als
Wirtschaftsminister wesentlich zum deutschen
«Wirtschaftswunder» der Nachkriegszeit beigetragen hat. Sein
jüngster Nachfolger, Robert Habeck, sollte sich wieder stärker auf
Erhards Prinzipien besinnen.
«Was sind das aber für Reformen, die uns Wände voll neuer
Gesetze, Novellen und Durchführungsbestimmungen
bringen? Liberale Reformen sind es jedenfalls nicht. Es sind
Reformen, die in immer ausgeklügelterer Form Bürger in
neue Abhängigkeiten von staatlichen Organen bringen, wenn
nicht sogar zwingen.»
Nein, diese Sätze von Ludwig Erhard
sind nicht auf die Gegenwart gemünzt. Erhard, der von 1949
bis 1963 als erster Wirtschaftsminister der Bundesrepublik
eine prägende Gestalt des damaligen «Wirtschaftswunders»
war, sprach sie 1974 aus. Aus seiner Sicht war Deutschland
damals weit von seinen Vorstellungen von Freiheit und
Selbstverantwortung abgerückt. Was würde er heute sagen?
Erhard, der Mann mit der Zigarre, wäre an diesem Freitag 125
Jahre alt geworden. Bei Lichte betrachtet ist er zwar weder der
einzige Vater der Sozialen Marktwirtschaft, noch hat er
Wunder bewirkt. Gleichwohl hat er sich als
Wirtschaftsminister bleibende Verdienste erworben, weil er
den Mut zu gewagten Entscheiden im Dienste einer liberalen
Wirtschaftsordnung aufbrachte.
«Wohlstand für Alle»
Zwei Beispiele mögen genügen. 1948 setzte Erhard – damals
war er Direktor der Verwaltung für Wirtschaft der westlichen
Besatzungszonen, die Bundesrepublik war noch nicht
gegründet – die Preisliberalisierung durch. Zusammen mit
der von den Alliierten vorbereiteten Währungsreform gab er
die bis dahin administrierten Preise für eine Vielzahl von
Produkten frei. Davon abhalten liess er sich weder von einem
Generalstreik noch von den anfänglichen Preissteigerungen
oder Bedenken der Alliierten. Mit Erfolg: Die Schwarzmärkte
verschwanden, die Geschäfte füllten sich mit Waren.
Und als Wirtschaftsminister war Erhard 1957 federführend bei
der Neuordnung des Kartellrechts mit dem Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkungen, diesmal gegen heftigen
Widerstand der deutschen Industrie. In seinen Reden und
dem 1957 erschienenen Buch «Wohlstand für Alle» erklärte er
dessen Bedeutung gerne mit Fussball-Metaphern: Der Staat
müsse wie ein Schiedsrichter mit seinen
Rahmenbedingungen einen fairen, freien Wettbewerb
ermöglichen, aber er dürfe nicht selbst mitspielen.
Wettbewerb sei das erfolgreichste Mittel zur Erreichung und
Sicherung jeden Wohlstands.
Deutsche Politiker berufen sich in Sonntagsreden bis heute
auf Erhard. Peter Altmaier, der von der CDU gestellte letzte
Wirtschaftsminister der Ära Merkel, hat gar die grosse Aula
seines Ministeriums nach ihm umbenannt. Doch im
werktäglichen Tun ist von Erhards Grundsätzen allzu häufig
wenig zu spüren. Vielmehr sind die «Wände neuer Gesetze»
seit 1974 weiter gewachsen und haben das Land mit
lähmender Bürokratie überzogen. Im Tandem mit einem
erschreckenden Rückstand bei der Digitalisierung hemmt sie
Wachstum und Innovation.
Und ewig prüft die Behörde.
So kommt es, dass Teslas neue Autofabrik bei Berlin zwar fast
fertiggestellt ist, deutsche Beamte aber noch immer über dem
Genehmigungsantrag brüten. So kommt es, dass die
Energiewende nicht vorankommt, weil die Genehmigung
jedes neuen Windkraftwerks Jahre dauert und die Leitungen,
die Strom vom windreichen Norden und Osten in den
industriellen Süden und Westen transportieren sollen, kaum
zeitgerecht fertig werden.
Der Staat als Mitspieler.
Auch rennt der Staat allzu oft auf dem wirtschaftlichen
Spielfeld dem Ball hinterher, statt Schiedsrichter zu bleiben.
Ausgerechnet Erhard-Fan Altmaier hatte einen Hang zu einer
interventionistischen Industriepolitik. Kaum ein Tag verging,
in dem sein Ministerium nicht einen «Förderbescheid» an
irgendein Unternehmen aushändigte, um den Aufbau von
nationalen und europäischen Batterieproduktionen, ChipFertigungen und vielem mehr zu subventionieren.
So nobel viele dieser Ziele sind, so häufig kommt es zu
Fehlanreizen, weil der Staat sich ein Urteil darüber anmasst,
welche Technologie zukunftsträchtig sein wird und welche
nicht, und weil einmal eingeführte Subventionen kaum mehr
abzuschaffen sind. Jüngstes Beispiel ist die nun endende
Förderung energieeffizienter Gebäude nach einem
Effizienzstandard, der sich im Markt bereits durchgesetzt hat.
Vollends zum Mitspieler wurde der Staat, als er sich 2020 als
Aktionär am Impfstoffentwickler Curevac beteiligt hat – zu
einem Zeitpunkt, als private Investoren das Potenzial der
mRNA-Impfstoffe längst erkannt hatten. Ebenfalls aus
Altmaiers Amtszeit stammen Regeln für eine verschärfte
Prüfung bestimmter ausländischer Investitionen. An diesen
gescheitert ist unter Altmaiers Nachfolger, dem Grünen
Robert Habeck, soeben die geplante Übernahme von Siltronic,
einem Münchner Zulieferer der Halbleiterindustrie, durch die
taiwanische Globalwafers. Mit Erhards Vorstellung von
offenen Märkten hat solcher Heimatschutz nicht viel gemein.
Ein Berliner Fanal
Allerdings wäre es unfair, all die Verstösse gegen Grundzüge
der Marktwirtschaft allein der Politik anzulasten. Misstrauen
gegenüber dem Markt ist in breiten Bevölkerungsschichten
ebenso weit verbreitet wie Risikoaversion und
Staatsgläubigkeit; auch rufen Unternehmen allzu gerne nach
Subventionen. Ob die Energiepreise steigen oder die
Wohnungsmieten: Viele Deutsche verstehen das nicht als
Knappheitssignal, das nach einer Ausweitung des Angebots
oder einer Anpassung der Nachfrage verlangt, sondern als
Problem, das der Staat subito abzustellen hat.
Wie gering das Verständnis für das Funktionieren von
Märkten und die Achtung vor Privateigentum – einem
weiteren Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft – sind,
zeigte sich im Herbst 2021: Eine klare Mehrheit der
Berlinerinnen und Berliner hat einem Volksentscheid
zugestimmt, der die «Vergesellschaftung» der Berliner
Wohnungsbestände grosser privater Unternehmen fordert.
Dabei hatte es im Vorfeld nicht an Warnungen
unterschiedlichster Experten gefehlt, dass Enteignungen
keine einzige neue Wohnung schaffen würden.
«Ampel», Markt und Klima
Mit Vizekanzler Habeck steht nun erstmals ein grüner
Politiker dem Bundeswirtschaftsministerium vor. Er ist
zugleich Klimaschutzminister und damit eine Schlüsselfigur
in der von der Ampelregierung angestrebten Transformation
hin zu einer klimaneutralen «sozial-ökologischen Marktwirtschaft».
Klimaschutz war zu Zeiten Erhards noch kein Thema. Doch in
Anlehnung an dessen Schiedsrichter-Metapher muss eine
marktwirtschaftliche Klimapolitik einen einschlägigen
Rahmen setzen, ohne in Einzelentscheide einzugreifen. Das
Instrument der Wahl hierzu ist der Emissionshandel, wie er
teilweise bereits besteht: Durch die Ausgabe handelbarer
Zertifikate legen der Staat bzw. die EU fest, wie viel
Treibhausgase maximal ausgestossen werden dürfen. Wo die
Einsparungen mit welcher Technologie erreicht werden, wird
hingegen dezentral von den Unternehmen und Konsumenten
entschieden, angeleitet durch den Marktpreis für die
Emissionszertifikate.Die «Ampel» bekennt sich zwar im Koalitionsvertrag zu einem Ausbau des Emissionshandels und einem steigenden CO -Preis, verbunden mit einem sozialen Ausgleich. So ganz scheint sie dem Instrument aber nicht zu trauen: Sie will es
mit einer Vielzahl von Förderungen, Geboten und Verboten
ergänzen, von der Solardach-Pflicht für gewerbliche
Neubauten bis zu Mindestquoten für klimafreundliche
Produkte in der öffentlichen Beschaffung. Sie läuft damit
Gefahr, dass der Klimaschutz ähnlich ineffizient und teuer
bleibt wie unter den bisherigen Regierungen.
Auch ausserhalb der Klimapolitik enthält der
Koalitionsvertrag vieles, was schlecht in eine
Wettbewerbswirtschaft passt, darunter die politisch
bestimmte Erhöhung des Mindestlohns und eine
Verlängerung der Mietpreisbremse.
Habecks Zigarrenrauch.
Interessant wird sein, Habecks Entwicklung zu verfolgen. Wie
offen ist er, der als Pragmatiker gilt und für die
Transformation private Investitionen in Massen benötigt, für
Argumente aus der Wirtschaft? Gab es im Entwurf zum
Jahreswirtschaftsbericht, den er letzte Woche vorgestellt hat,
auffällige Wachstums- und Kapitalismuskritik, ist diese aus
dem Endprodukt jedenfalls weitgehend verschwunden.
Stattdessen sagte der Minister bei der Vorstellung Sätze wie
diese: «Ich weise noch mal darauf hin, dass Soziale
Marktwirtschaft bedeutet, dass der Staat nicht alles regelt.»
Oder: «Subventionen sind immer nur die Ultima Ratio in der
Marktwirtschaft.»
Auch Habeck wird man an seinen Taten messen, nicht an
solchen Worten. Zumindest mit einem aber scheint es der
«Ampel» ernst zu sein: mit der Beschleunigung der
Genehmigungsverfahren, ohne die die Klimawende nicht zu
schaffen sein wird. Das ist ein dickes Brett, doch ein Schuss
Optimismus sei erlaubt: Vielleicht kann ein grüner
Vizekanzler am ehesten die Kompromisse durchsetzen, die
nötig sein werden zwischen Arten- und Naturschutz auf der
einen und Infrastrukturausbau auf der anderen Seite,
zwischen akribischer Suche von Zauneidechsen auf dem
Tesla-Baugelände und raschen Beschlüssen. So wie es einst
den Sozialdemokraten Gerhard Schröder gebraucht hat, um
verkrustete Arbeitsmärkte aufzubrechen.
Habeck selbst hat an der Medienkonferenz, nachdem er auch
noch die Bedeutung des Kartellamts hervorgehoben hatte,
hinzugefügt: «Das klingt immer so ein bisschen verstaubt:
das Kartellamt. Man denkt an Ludwig Erhard und
Zigarrenrauch.» Fast schien er selbst erstaunt, dass
ausgerechnet er an seinen berühmten Vorgänger erinnert. Er
möge sich gerne weiterhin erinnern – «mehr Erhard» würde
Deutschland gewiss nicht schaden.