Der Aufschieber

Mit einem scheppernd lauten Piepton verkündete der Wecker zum wiederholten Male das Ende der Nacht. Ein nackter Arm, der sich zaghaft aus der Decke befreite, brachte diesen mit einer einzigen schwerfälligen Bewegung zum Schweigen. Zumindest vorübergehend, denn es war nur die Schlummertaste, die der Besitzer betätigt hatte. Damit war auch dessen schlechtes Gewissen beruhigt, dass er sich erneut in einen leichten Dämmerschlaf fallen ließ. Es war Wochenende, normalerweise kein Grund zu übertriebener Hektik. Normalerweise! Ein Projekt, das er schon lange angehen hätte sollen, musste fertiggestellt werden. Keine unwichtige Sache, vielmehr ein existenzbedrohendes Unterfangen. Sollte er den Termin nicht einhalten können, seine Bilanzen nicht abgeben, würde er wirkliche Probleme bekommen, war es doch schon der verschobene Termin, der nun bevorstand!

Nach der dritten Verlängerung des Schlafes hatte er seine Gestalt zumindest einmal in Sitzposition gebracht, fuhr sich nun erledigt durch das wirre Haar und atmete genervt aus. Die letzte Nacht hatte er mit der wichtigen Arbeit begonnen und bis morgen musste sie fertig sein. Es hatte ihm schon gestern keinen Spaß gemacht, vor den Papieren zu sitzen. Spätestens jetzt hatten sich allerdings Kopfschmerzen eingestellt. Er würde wieder nicht schaffen, den Termin einzuhalten, zu groß war die Hürde, die noch vor ihm lag.

Als er damals seine Firma gegründet hatte, wäre er niemals auf die Idee gekommen, dass ihm sein Unternehmergeist je abhanden kommen würde. Niemals hätte er gedacht, mit den verbundenen Aufgaben überfordert zu sein. Damals hatte er die jugendliche Leichtigkeit noch nicht verloren, hatte idealistische Vorstellungen, Träume, Ziele vor Augen gehabt. Im Laufe der Jahre waren diese einer gewissen Abgeklärtheit gewichen. Private Probleme, berufliche Erschwernisse und Veränderungen generell hatten ihn seine Ideale vergessen lassen. Mangels Personen, die ihm Grenzen zu setzen wussten, war er zunehmend chaotischer, unorganisierter, abgestumpfter geworden. Was keine Freude bereitete, wurde vermehrt aufgeschoben, auf bessere Zeiten. Irgendwann war der Punkt erreicht, wo selbst die besseren Zeiten aufgeschoben wurden. Der Hut hatte längst zu brennen begonnen, doch er selbst war im Kopf blockiert. Das Problem, das er entstehen lassen hatte, begann zu wachsen, auch in seinem Denken. Es war allgegenwärtig und trotzdem schaffte er es nicht, sich hinzusetzen und es zu lösen. Er schob und schob dahin, während er stetig den Tätigkeiten seiner Arbeit nachging, denen er noch gewachsen war, weil sie ihm Spaß bereiteten. Papierkram war nie seines gewesen! Wohin war die Welt nur gekommen? Alles wurde schwieriger, nichts besser.

Einmal hatte er sich jemandem anvertraut, einer Frau, die er wirklich schätzte und glaubte zu lieben. Er spürte Geduld und Toleranz bei ihr, wusste zuerst trotzdem nicht, wie sie reagieren würde. Um mit ihr zu sein, das wusste er, musste er sich ihr anvertrauen, von Anfang an ehrlich sein. Sie hatte klargestellt, dass sie Lügen und Heimlichtuereien verabscheute. Vor ihr würde er sein massives Problem nicht verbergen können, vor ihr war er aus Glas.Sie hatte genau das Verständnis, das er sich erhofft hatte und brachte jede Energie auf, um ihm zu helfen. Gemeinsam packten sie den Berg an, der für ihn alleine nicht zu bewältigen war. Sie war auch diejenige, die ihn seinen Stolz überwinden und seine Verwandten um Hilfe bitten ließ. Mit vereinten Kräften hatten sie damals das Dringlichste erledigen und damit eine existenzielle Bedrohung abwenden können. Danach hatte die Frau an seiner Seite allerdings ihre Erwartungen an ihn klargestellt, dass er nun selbst regelmäßig seine Aufgaben anpacken müsse. Ja, hatte er versichert, dass es nie wieder so weit kommen würde, dass er gelernt hätte.

Nun, ein knappes Jahr später war klar, dass die damaligen Versprechungen nicht eingehalten worden waren. Er saß dort, wo er festsaß, an der Kante seines Bettes, das ihn einem Gefängnis gleich, nicht freigeben wollte, damit er seine Arbeiten erledigen konnte. Es war klar, dass er erneut um Hilfe bitten musste, was ihm nicht leicht fiel. Er fühlte sich als Versager, unfähig, irgendetwas auf die Reihe zu bekommen, würde seinen ganzen Charme benötigen, um Nachsicht zu erwirken.

Er war ein Aufschieber. Geworden oder schon immer gewesen, so genau wusste er das nicht mehr. Mit den Aufgaben war das Aufschieben gewachsen. Leider wurde ihm zunehmend bewusst, dass er auch zum Ausnützer geworden war. Wann immer er Feuer rief, waren Leute um ihn herum, die ihn aus dem Inferno befreiten. So konnte das nicht weitergehen. Würde es auch nicht, denn die Retter um ihn nahmen das permanente Nicht-Erledigen mittlerweile als Taktik wahr und hatten ihre Resignation bereits angekündigt. Er würde diesmal noch auf deren Inkonsequenz hoffen müssen.

Morgen dann, nach dem Termin, würde alles anders werden. Anders besser. Natürlich. Morgen war morgen, ein anderer Tag, die Chance für Neubeginn. Nur eben nicht jetzt. Zuversichtlich hievte er seinen trägen Körper empor und stapfte unmotiviert ins Badezimmer. Rasch umhüllte er seine ausgekühlte Haut mit dem Stoff des Bademantels und betrachtete sein fahles Antlitz prüfend im Spiegel. „Alt bist du geworden!“ Er atmete tief ein und wieder aus, fuhr sich abermals durchs Haar und griff nach seinem Handy. Selbstverständlich. Nie war es anders gewesen.

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Kristallfrau

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Silvia Jelincic

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