Hirnschach

Ich habe einen lieben Freund. Kennengelernt haben wir uns durch Zufall und da wir nicht in derselben Stadt wohnen und beide dazu das Schreiben lieben, sind wir von Bekannten, die sich hin und wieder mal ein paar Zeilen widmen, irgendwann zu richtigen Brieffreunden geworden. Heute heißt das E-Mail- oder SMS-Freund, um genau zu sein!

Zweimal haben wir uns getroffen. Einmal geplant, genau in der Mitte zwischen unserer Distanz, um einen herrlichen Tag miteinander zu verbringen und einmal in Wien, weil es ihn beruflich einige Tage in meine Heimatstadt geführt hat. So eine Gesichtswäsche ist wichtig und wohltuend, weil man bei viel virtuellem Austausch schon mal den Bezug zu seinem Gegenüber verliert. Wir besprechen ja fast alles in unserem Geschreibsel. Wie bei einem Psychotherapeuten, den wir wegen unserer Methode sicherlich nicht mehr brauchen oder vielleicht gerade deswegen schon? Wie auch immer, man will seinen Schreibpartner mal sehen wie er leibt und lebt.

Der Reiz dieser Kommunikation liegt interessanterweise in der Verschiedenheit unserer Lebensstile und –zugänge. Er, der introvertierte, durchaus weltoffene, aber isolierte Sonderling. Ich nicht das ganze Gegenteil, aber doch in vielen Punkten konträr. So gut wir im Schreiben miteinander harmonieren, als Paar würde es uns nie geben, was von Anfang an beiden klar war. Der seltene Fall, dass eine Freundschaft zwischen Mann und Frau funktioniert, wobei man nie etwas miteinander hatte und auch nicht „mehr“ will!

Obwohl wir durch unsere Ehrlichkeit und Offenheit sehr gut miteinander vertraut sind, will das Gespräch im direkten Kontakt nie so richtig in Gang kommen. Es ist von Schüchternheit und Unsicherheit auf seiner Seite geprägt, was wiederum zu Endlosmonologen meinerseits führt. Eigentlich ist es schwierig, sich nicht mit mir unterhalten zu können, da ich stets versuche, mir Themen aus der Nase, von den Haaren oder von sonst wo herzuziehen, wo Themen eben hergezogen werden! Ich kann beklemmtes Schweigen nicht ertragen.

Irgendwann, wenn wir es dann zu einer dezenten Lockerheit geschafft haben, gehen wir auseinander und wissen, dass wir nächstes Mal wieder bei Null beginnen werden. Dazwischen aber gibt es diesen regen Austausch über alle möglichen Alltags- und Lebensprobleme, die uns beschäftigen. Oft ist es witzig, sodass wir uns gegenseitig mit Wortspielen niederblödeln, dann wieder sehr tiefgründig und philosophisch.Oder beides!

Nicht immer oder besser gesagt nicht oft sind wir einer Meinung, die Grundessenz unserer harmonischen Freundschaft liegt daher wahrscheinlich darin, dass wir komplett in uns gehen können, bevor wir etwas loslassen. Es passiert fast nie, dass jemand von uns unreflektiert etwas Beleidigendes oder Verletzendes von sich gibt. Ein Gespräch kann schon einmal anders verlaufen. Man redet aneinander vorbei oder gibt etwas von sich, das dann anders ankommt als gewollt. Was niedergemeißelt ist, wird genauer gehört und genauer durchdacht. Freilich, solch eine Freundschaft ist heutzutage etwas exotisch und selten zu finden, von meiner Seite aber wärmstens weiterzuempfehlen. Hirnschach allerdings nicht! Überlegungen sind durchaus wichtig, aber bitte ohne Überkreuzknotenwirrwarr und mit Bauchgefühlsveto!

Dabei muss ich an all die Menschen denken, die es nicht schaffen, aus sich herauszugehen, die beim Kennenlernen von potentiellen Partnern oder beim Freundschaftenschließen Probleme haben. Ich bin überzeugt davon, dass es da draußen ganz viele tolle isolierte Menschen gibt, die noch niemand entdeckt hat. Weil sich nicht alle Menschen die Mühe machen, hinter die Kulisse zu blicken. Das Leben hat mich aber gelehrt, dass man nie vorverurteilen sollte.

Mein Freund hat einige Beziehungen hinter sich, die eben gescheitert sind, und ist natürlich auf der Suche nach einer Partnerin, kann aber nach langer einsamer Singlezeit und vielen Selbstzweifeln dieses nicht in die Realität umsetzen. Tipps meinerseits bringen ihn auch nicht weiter. Er spielt seine eigene Partie. Hirnschach! Was wäre wenn und dann wenn das wenn so wäre, wie wäre dann das wennwenn?! So wird das nix. Wenn das so weiter geht, trifft er auf eine Nymphomanin, die ihn von der ersten Sekunde an will oder, was wahrscheinlicher ist, gibt sich endlosen Träumereien hin, die er nicht umsetzen kann. Natürlich ist er wählerisch, wählt jedoch nicht!

Hin und wieder schreibt er von Situationen, die ihm im Berufsleben begegnet sind und ich denke schon, jetzt könnte es etwas werden, er kommt aus sich heraus, spielt nicht mehr Hirnschach sondern zumindest Hirnmikado oder Hirnpoker. Dann aber macht er wieder einen Rückzieher wie ein Pubertierender, der zum ersten Mal Schmetterlinge im Bauch hat und nicht weiß, wie er die Herzdame ansprechen soll. Schachmatt! Er bräuchte einen Cyrano, der ihm von hinten die Worte zuflüstert, dabei hat er selbst die Gabe eines Poeten, schreibt wahrlich gewählt und gehaltvoll. Doch das Anleiten würde auch nichts bringen, weil er sich stur alles schönredet und auf seine Grundsätze und Werte schiebt, nach denen er lebt. Ausweichmanöver, um sich selbst nicht begegnen zu müssen!

Aus seiner Haut schlüpfen, über seinen Schatten springen, sich einen Ruck geben, sich nicht zieren. Es ist schade, dass das alles Menschen so schwer fällt. Mir scheint, ab einem gewissen Alter entscheidet sich, ob wir entweder besonders mutig und selbstbewusst werden oder schüchtern und verhalten. Natürlich werden wir nicht alle schwarz oder weiß, aber wir gehen in eine Richtung und nur besonders harte Schläge, die einen aus der Bahn werfen, können Änderung bewirken. Ich weiß nicht, was meinen lieben Freund vom Spielbrett seines Gehirns zu werfen vermag, aber ich denke, er bräuchte dringend einen Gegner!

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