In einer Zeit wie dieser bietet es sich an, gewisse grundlegende Überlegungen zu Papier zu bringen. Dies liegt nicht nur an dem Umstand, dass man allgemein jetzt einen absoluten Überhang an freier Zeit zur Verfügung hat. Bestimmte Aspekte jener grundlegenden Überlegungen haben auch einen ganz bestimmten Bezug zu den weltanschaulichen Bruchlinien innerhalb unserer modernen Gesellschaften, die in Zeiten der Corona-Krise auf ganz augenfällige und radikalisierte Weise zutage treten.
Ich beginne ganz unbescheiden: Mein Feld ist in erster Linie das der philosophischen Anthropologie. Das heißt, mich treibt die Frage nach dem Menschen um.
Es wird im Verlauf des Textes noch Gelegenheit genug sein, den Begründungen gewisser Sichtweisen, gewisser gewichtiger und weniger gewichtiger Wortspenden, im Zusammenhang mit dem Kampf der menschlichen Zivilisation gegen das Virus, in verschiedenen Positionen zu jener Frage nach dem Menschen nachzuspüren.
Zunächst möchte ich jedoch meine eigenen Überlegungen in dieser Hinsicht vorstellen:
Ohne Zweilfel ist der Mensch etwas Lebendiges. Ohne Zweifel hat er mit seiner Lebendigkeit Anteil an der ihn umgebenden Natur. Dieses zentrale Merkmal des Menschen möchte ich hier als seine Kreatürlichkeit bezeichnen.
Doch mit dem Verweis auf seine Kreatürlichkeit ist die Frage nach dem Menschen – der philosophischen Tradition und unserer Intuition folgend – noch nicht vollständig, ja – wie sich im weiteren zeigen wird – noch nicht einmal wesentlich beantwortet.
Zur Kreatürlichkeit des Menschen tritt, als die eigentlich spezifisch menschliche Eigenart (die sogenannte anthropologische Differenz), seine Disposition zur Zivilisation.
Das eigentliche thematische Feld der Frage nach dem Menschen ist demnach das des Verhältnisses der beiden grundlegenden Merkmale des Menschen – also seiner Kreatürlichkeit und seiner Zivilisiertheit – zueinander.
Was nun ist am Menschen Kreatürlichkeit, was Zivilisation?
Liegt es beispielsweise in der Kreatürlichkeit des Menschen begründet, ein Haus zu bauen? Unsere nächsten tierischen Verwandten bauen sich keine Unterkünfte. Der Mensch selbst tut dies auch nicht unter allen Umständen. Es liegt vielmehr zum Beispiel an der unfreundlichen Witterung in unseren Breiten, an einer feindlichen Umgebung etc., dass wir – und mit uns die meisten Menschen – in Häusern leben. Wenn der Mensch sich ein Haus baut, folgt er dabei, bis auf ein paar ganz grundlegenden, ganz durch die Praxis erzwungenen Grundsätzen, keinem wie auch immer gearteten Generalplan, wie die Biene oder der Vogel.
Die Frage lässt sich also ganz klar beantworten: Nein, dass Menschen Häuser bauen, liegt nicht in ihrer Kreatürlichkeit begründet. Häuser sind demnach (was wir aber natürlich schon wussten) Ausdruck menschlicher Zivilisation.
Darüber hinaus ist die Art und Weise der Konstruktion eines Hauses, abseits der Grenzen, die ihr durch die Natur (hier zum Beispiel durch die Gesetze der Statik etc.) gezogen werden, vollkommen abhängig von kultureller Präferenz, von Traditionen, von Moden usw. und daher alles andere als einheitlich. Anders gesagt: sie ist nur der Willkür des Menschen unterworfen.
Und dennoch bleibt der Zweck eines Hauses (insofern – wie für eine grundlegende Untersuchung wie dieser zwingend notwendig – von allen Sekundärzwecken wie Repräsentation etc. abgesehen wird) immer derselbe. Sein Ziel ist es – bei aller Willkür in der Auswahl der Wege dieses Ziel zu erreichen – immer, dem Menschen Schutz vor der Witterung, vor wilden Tieren usw. zu bieten. Oder allgemeiner gesagt: ein Haus leistet auf die ihm eigene Weise und in einem streng umrissenen Teilgebiet des Lebens die Entkoppelung des Menschen von den Zwängen der Natur.
Zusammengefasst: die zivilisatorische Funktion „Haus“ ist erstens mannigfaltig in ihren spezifischen Ausprägungen (z.B. den Stilen in der Architektur), doch zweitens einheitlich in ihrem Ziel: der Entkoppelung des Menschen von der Natur, die ihn existenziell bedroht; drittens sind dieser Funktion der Emanzipation von natürlichen Zwängen jedoch wiederum durch die Natur gewisse, nicht zu überschreitende Grenzen gesetzt.
Dieses Grundmuster finden wir bei jeder einzelnen zivlisatorischen Funktion. Schauen wir zum Beispiel einmal auf den großen Teilbereich „Medizin“: die vielen unterschiedlichen Zugänge (mit ihren unterschidlichen Graden an Wirksamkeit – doch das interessiert uns auf dieser grundlegenden Ebene nicht) verfolgen alle nur ein Ziel: die für den Einzelnen desaströse Wirkung des ewigen Kreislaufs des Lebens – sei es in der Form des Todes oder sei es in der Form seines Propädeutikums, der Krankheit – abzuwehren. Ganz gleichgültig, wie wirksam ihre Therapien und die von ihnen entwickelten Diäten auch sein mögen, an jedem Ende wird die Medizin (solange sie wirklich Humanmedizin bleibt) an der Sterblichkeit des Menschen ihre nicht zu überwindende Schranke finden.
Oder schauen wir auf den unglaublich großen Bereich der Produktion materieller Güter (der eine oder andere wird einwenden, dass auch das Bauen von Häusern zumindest zum Teil zu diesem Feld gehört, und mag damit vermutlich sogar recht haben: zivilisatorische Funktionen überschneiden sich oft auf vielfältige Weise): Die Zahl der verschiedenen Produktionsweisen, der mit diesen jeweils verschlungenen verschiedenen Besitzverhältnisse, auch der Systeme von Distribution von produziertem Wohlstand sind allesamt Legion. Nicht nur jede Gesellschaft, auch jede Klasse, sowie jeder Zweig einer Volkswirtschaft, ja in gewisser Weise sogar jedes Unternehmen (und die Entsprechungen von „Volkswirtschaft“ und „Unternehmen“ in den verschiedenen historischen Epochen) versucht auf den verschiedensten, wiederum jeweils erfolgreichen oder weniger erfolgreichen Wegen zu einem (primären) Ziel zu gelangen. Kurz gesagt: dem Ziel, reich zu werden; oder unserem Thema angepasst formuliert: dem Ziel, dem natürlichen Zustand des materiellen Mangels, der jedes einzelne Lebewesen seit es Leben gibt bedrückt, zu entfliehen. Wiederum sind der wirtschaftlichen Entfaltung des Menschen durch die Natur selbst gewisse Grenzen gesetzt, die er zwar immer weiter vor sich hertreiben, die er aber nie überschreiten wird können. Besonders die (zwar relative, aber dennoch immer gegebene) Endlichkeit der Ressourcen ist als eine dieser unüberschreitbaren Grenzen gerade uns Heutigen sehr geläufig.
Doch durch all diese Beispiele, so wird man einwenden, erfahren wir nichts von der „Kreatürlichkeit“ des Menschen. Sie beleuchten nur seine „Zivilisiertheit“ von jeweils unterschiedlichen Seiten. Diese stellt sich in diesen Beispielen dar als eine Art Widerständigkeit gegen die äußere Natur.
Aber zivilisatorische Funktionen beschränken sich nicht nur auf die Abwehr der Anfechtungen durch die äußere Natur.
Alle das gesellschaftliche Leben strukturierenden Regeln, die hierarchische Struktur der Gesellschaft selbst, alle Ethik, alle Höflichkeit, der positive Gehalt jeder Religion und jeder Philosophie ist selbst als Ganzes zivilisatorische Funktion oder ist selbst ein Teil einer solchen, deren spezifische Ausprägung so mannigfaltig wie die verschiedensten Gesellschaftsformationen und ihre Untereinheiten und Individuen, deren Zweck aber wieder nur einer ist: die Abwehr der Natur. Doch es ist hier nicht mehr nur die äußere Natur, deren Anfechtungen pariert werden sollen. Die Verhaftung des Menschen selbst in der Natur – also seine Kreatürlichkeit – wird diesem zum Fallstrick und soll in ihrer Macht über ihn gehemmt werden. Und wiederum findet die Zivilisiertheit in Gestalt ihrer einzelnen Funktionen ihre ausdehnbare, aber nicht zu überschreitende Grenze in der Natur – in diesem Fall also in der Kreatürlichkeit des Menschen – selbst.
Schauen wir nur einmal genauer irgendeine dieser zivilisatorischen Funktionen in der eben beschriebenen Hinsicht an. Nehmen wir zum Beispiel eine zentrale Forderung des Moralsystems aller Religionen und Ethiken: Man soll – so glauben wir es doch alle – nicht töten. Lassen wir für einen Augenblick alle Aspekte des Sollens und seiner Eigenart im Verhältnis zum Sein und seiner Beschreibung außen vor und betrachten diese Forderung nur hinsichtlich unserer Definition einer zivilisatorischen Funktion: Die Begründung des Tötungsverbotes kennt unzählige Formulierungen, eingebettet in ganz unterschiedliche Systeme, die wiederum allesamt selbst zivilisatorische Funktionen sind. Eine Gottheit oder die reine Vernunft oder ein Glückskalkül fordern; der Wege zum Ziel sind also wieder sehr viele. Ihnen allen aber eignet der Zweck, den Menschen vor dem Menschen zu schützen. Genauer gesagt: ihn vor den Impulsen seiner Kreatürlichkeit zu schützen. Denn: wenn ein Mord mitunter auch mit einem erheblichen Ausmaß an Berechnung einhergehen kann, die Motive des Täters können dies nie. Hier wirken dieselben Instinkte wie in einem Wolfsrudel. Zugleich findet die Wirksamkeit des Tötungsverbotes ihre zwar – zumindest wenn wir den Theorien von einer Art „Prozess der Zivilisation“ glauben schenken wollen – durchaus dehnbare, aber dennoch letztendlich unüberwindbare Schranke in der Kreatürlichkeit des Menschen, also in der Natur. Tötungsverbote verhindern die Existenz des Mordes in der Welt genausowenig wie scharfe Strafen (die, eingebettet in den ganzen Komplex des Rechtes, ebenfalls zivilisatorische Funktion sind).
Oder betrachten wir die Tabuisierung der Geschlechtlichkeit: jede Gesellschaft kennt Pietät in diesen Dingen. Doch was bei den einen sanktioniert, ja regelrecht institutionalisiert wird, ist für die anderen ein Gräuel. Verbot oder Gebot der Geschwisterehe; Akzeptanz, Begrüßung oder Ablehnung der Homosexualität; Gebot der Endo- oder Exogamie. Nirgends sind der Wege so viele wie bei der Reglementierung der Sexualität und nirgendwo kann man so sicher sein, dass reglementiert wird. Doch wo ist der Zweck? In welcher Weise bedroht freie Sexualität – also: wirklich freie und nicht bloß gesellschaftliche Permissivität, oder besser: modische Indifferenz innerhalb einer grundsätzlich rigiden Sexualmoral wie der westlich-bürgerlichen – den Menschen?
Allen bisherigen Beispielen eignet, dass sie, neben der Abwehr einer sozusagen materiell greifbaren Gefahr, dem Zweck der Entkoppelung des Menschen von den Zwängen der Natur noch in einer anderen Weise dienen:
Der Hausherr ist niemals Herr der Witterung selbst. Hier ist – wie wir gesehen haben – die Grenze der zivilisatorischen Funktion „Haus“. Er kann ihr ebenso wenig wehren, wie der Artzt dem Tod selbst. Alle Ökonomie wird die Knappheit der Ressourcen nicht gänzlich aus der Welt schaffen können. Weder Ethik noch Recht können verhindern, dass der Mensch dem Menschen zum Wolf werden kann. Auch die mannigfaltigen Einhegungen und versuchten Modifikationen der Geschlechtlichkeit durch den Menschen werden – so radikal sie auch sein mögen – nichts daran ändern, dass sich jede Gesellschaft und jeder einzelne Mensch bis in alle Zukunft mit dieser Urkraft wird auseinandersetzen müssen. Die vielfältigen zivilisatorischen Funktionen als Lösungsansätze wirken also nie in wesentlicher Weise auf die Kräfte der Natur. In ihrer Wirkung ähneln sie eher Palliativen als Kurativen; sie sind immer der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Das Verhältnis von Zivilisation zur Natur gleicht dem eines Davids zu einem Goliath. Dies liegt nicht an einer mangelnden Leistungsfähigkeit einer aktualen zivilisatorischen Funktion, also der mangelnden Annäherung an die oben beschriebene Grenze, sondern an der grundsätzlichen Unüberwindbarkeit eben dieser. (Das wird noch von Bedeutung sein, wenn wir uns mit Ideologien beschäftigen werden, die die Natur – oder genauer: die Kreatürlichkeit als Teil der Natur – gegenüber einer angeblich übermächtig gewordenen Zivilisation wieder in ihr Recht einsetzen wollen.)
Man kann es auch so ausdrücken: die Natur tritt dem Menschen immer in absoluter, gleichzeitig enigmatischer Weise entgegen. Sie ist ihm das An-Sich.
Natur per se zwingt also den Menschen, ist zugleich unmittelbarer und geheimnissvoller Albdruck. Auf der anderen Seite dieser Medaille steht: zivilisatorische Funktion ist per se Instrument der Erleichterung von jenem Albdruck. Doch diese Erleichterung ist nicht immer nur und ist nie im selben Maß die von einer materiellen Gefährdung. Die Abwehr kann dem zwingenden Charakter der Natur selbst gelten. Und vor allem hier liegt eine wahrscheinliche Erklärung für den starren, fixen Blick aller bekannten Zivilisationen auf die Geschlechtlichkeit und für die allgemeine Attraktivität der Möglichkeit ihrer Reglementierung, da jene die dem Menschen auferlegten Fesseln der Kreatürlichkeit so offensichtlich sichtbar macht, dass ihr von Anfang an ein Großteil der Aufmerksamkeit in der Zivilisationsarbeit gewidmet wird.
Die Feststellung der Nicht-Exklusivität der Abwehr einer materiellen Gefährdung als Motiv zur Entwicklung einer zivilisatorschen Funktion führt uns zu zwei weiteren vielfältig ineinander verschlungenen Ausprägungen des Zweckes eben dieser: Erkenntnis und Feiheit.
Wenn die Natur (verstanden in unserer, im Verlauf des bisherigen Textes entwickelten Weise) dem Menschen ein An-Sich ist und immer bleiben wird, das er nie ganz ergründen, ja eigentlich gar nicht verstehen kann, was – um eine weitere große Formulierung zu gebrauchen – kann der Mensch dann wissen? Und drängt sich hier nicht auch sofort der Einwand auf, dass wir ja vieles über die Natur wissen („Naturgesetze“ etc.)?
Was genau wissen wir denn über die Natur? Im globalen und historischen Maßstab betrachtet, lässt sich zu diesem Thema sagen, dass der Modelle von Welterklärung unzählige sind. Nicht nur werden den einzelnen Naturerscheinungen in unterschiedlicher Weise Platz und Sinn innerhalb der verschiedenen Modelle zugewiesen, sondern es lässt sich auch beobachten, dass das spezifische (Natur-)Phänomen sozusagen erst durch sein Bezugsmodell in der ihm eigentümlichen Weise erscheint (der Blitz: einmal verstanden als elektrische Entladung, einmal als verdichtete Materie – Aristoteles, einmal als sich entzündender Himmelsäther – Anaxagoras; der Sternenhimmel: einmal als Lichtemission von Himmelskörpern, einmal als Löcher im Himmelsgewölbe, also einmal als Erscheinung von etwas Vorhandenem, einmal als Erscheinung, zurückzuführen auf etwas nicht Vorhandenes; usw.). Die (erweiterbare, aber nicht überschreitbare) Grenze unserer Naturerkenntnis ist bedingt durch die Verschränktheit von Erscheinung und Modell, also durch das Für-Uns aller Erkenntnis, oder, anders ausgedrückt: durch das nicht zu ergründende An-Sich der Natur, oder kürzer: duch die Natur. Motiv von Naturerkenntnis, wie überhaupt von jeder Erkenntnis, ist die Abwendung unseres Ausgeliefertseins an das An-Sich der Natur, an ihre Zwänge und an ihre Unergründbarkeit; ist also wieder die Entkoppelung des Menschen von der Natur, die ihn existenziell bedroht. Wir sehen, Naturwissenschaft ist zivilisatorische Funktion und wir können im Grunde nur über diese zivilisatorische Funktion (oder besser: innerhalb dieser) wirklich Bescheid wissen. Mit ihr befreien wir uns zugleich von dem Albdruck des An-Sichs der Natur.
Das eben Gesagte gilt für jede Form der Erkenntnis, wie übrigens auch überhaupt für jede einzelne zivilisatorische Funktion: Tatsachen sind immer empirische Tatsachen, also immer Tatasachen Für-Uns. Moralische und rechtliche Tatsachen sind notwendig wahr innerhalb einer bestimmten Ethik oder Rechtsordnung, sind Für-Uns und damit sowohl alternativlos, als auch, auf der ganz grundlegenden Ebene, die uns hier interessiert, Ausdruck spezifisch menschlicher Freiheit. Politische Zwänge sind Ausdruck einer bestimmten Herrschaftsordnung als spezifischer Auspräung der zivilisatorischen Funktion „Herrschaft“ und damit – als Für-Uns – ebenfalls Ausdruck unserer Freiheit. Wenn wirklich in einem Punkt – wie es ein bekanntes Philosophenwort suggeriert – „Freiheit und Notwendigkeit“ zusammenfallen, dann – vermutlich anders als von jenem Herrn gemeint – innerhalb der zivilisatorischen Funktion.
Wir können dieses Spiel aber auch für jede einzelne weiter oben erwähnte zivilisatorische Funktion durchspielen, wir werden immer zu einem analogen Ergebnis kommen: Der Plan des Hauses liegt ganz offen vor dem Erbauer, er hat ihn erstellt. Im Planen des Erbauers äußert sich seine individuelle Freiheit. Seine Selbstverpflichtung auf den Plan, die zur Planung gehört ist notwendig um ein Haus zu bauen. Er versteht aber zugleich auch die jeweilige Mode des Bauens, den Stil, plant ganz selbstverständlich innerhalb des von der jeweiligen Gesellschaft vorgegebenen Rahmens. Zugleich muss sich sein Bauen nach dem Plan und den Moden und Stilen richten, um wirklich in seinen Augen und in den Augen seiner Mitmenschen ein Haus zum Ergebnis zu haben. Die sich hier äußernde Notwendigkeit hat ihren Grund in der Freiheit der Gesellschaft. Und steht das Haus einmal, macht es die Bewohner frei von den Zwängen der Witterung.
Alle Mediziner einer Schule halten sich mit eiserner Disziplin zumindest an die Grundsätze der Auffassung vom menschlichen Körper und von der Behandlung von Krankheiten, die ihr kollektives Ich, die jeweilige Schule, zuvor festgelegt hat.
Im Bereich der Ökonomie kann man auf die vielfältige gegenseitige Determinierung von Praxis und Theorie (beide potenziell jeweils Ausdruck von gesellschaftlicher Freiheit, die notwendiges Handeln bzw notwendiges Erkennen von vorhandener Struktur, Gesetzmäßigkeit etc. bedingt) verweisen.
Überall fallen die Freiheit in der Schaffung verbindlicher Regeln zum Zwecke der Entkoppelung des Menschen von der Natur mit der diesen Regeln strikt folgnden Erkenntnis der Welt Für-Uns in der zivilisatorischen Funktion zusammen. Dabei fällt auf, dass Schaffung von Regeln der Erkenntnis und ihre Befolgung im Erkenntnisprozess im Grunde nicht voneinander getrennt sind: Ob eine dem geplanten Zweck nicht gemäße Raumaufteilung nun überarbeitet, oder ein dem angedachten Ziel des Schutzes vor der Witterung nicht gerecht wedenendes Schutzelement (sagen wir z.B. ein Dach) nachgebessert werden muss: Wer ein Haus nach einem Plan baut, wird diesen, gerade wenn er ihn strikt befolgen möchte, ständig modifizieren, ihn also ihm sozusagen immer gemäßer machen müssen. Usw.
Zusammenfassend lässt sich anmerken, dass erstens die zivilisatorische Funktion – um wieder ein sehr großes Wort zu gebrauchen – Bedingung der Möglichkeit sowohl von menschlicher Erkenntnis der Welt, als auch von menschlicher Freiheit ist, und dass zweitens diese beiden auf ganz grundsätzlicher Ebene ineinander fallen. Drittens sind Erkenntnisfähigkeit und Freiheit (in unserem Sinne verstanden als Ermächtigung zu radikaler Gestaltungsfähigkeit) als die zentralen Charakteristika des Mensch-Seins aufzufassen. Ist doch die zivilisatorische Funktion Ausdruck der anthropologischen Differenz.
Die in unserem Sinne verstandene Freiheit des Menschen, die Welt der empirischen Tatsachen und die Zivilisation und ihre Motivation aus der Abwehr der existenziell bedrohlichen Natur als wesentliche Eigenschaft des Mensch-Seins: Wer eines davon angreift, greift zugleich alle an, auch wenn er diesen seinen Angriff vorgeblich im Namen eines dieser dreien führt.
Eine große, aus den eigenen Postulaten erwachsende Schwierigkeit zeichnet die oben skizzierten grundsätzlichen Überlegungen aus und soll auf keinen Fall verschwiegen werden: Man kann vom An-Sich nur in einer für-uns gemäßen Weise reden. Z.B. also in Gleichnissen, wie „Natur“ und „Kreatürlichkeit“. Anders gesagt: man kann den besagten „Gegenstand“ – weil er eben kein Gegenstand ist – wenn überhaupt nur über Umwege und ex negativo (durch die Beschreibung der zivilisatorischen Funktion) erfassen, obwohl er das eigentlich Ursprüngliche ist, zu dem die Zivilisation in einem Verhältnis der „Negation“ (am ehesten im Sinne Hegels) steht. Das schafft große Unzulänglichkeiten. Schopenhauer, dessen Philosophie bekanntlich der Versuch war, eine Art Hintertür zum An-Sich aufzustoßen, hat diese Schwierigkeiten in Form einer Kritik an Kant folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Die Wahrheit ist, daß man auf dem Wege der Vorstellung nie über die Vorstellung [dem Für-Uns der zivilisatorischen Funktion] hinaus kann; sie ist ein geschlossenes Ganzes und hat in ihren eigenen Mitteln keinen Faden, der zu dem von ihr toto genere verschiedenen Wesen des Dinges an sich führt.“
Doch: wie groß müssen jene Unzulänglichkeiten erst auf Seiten derer sein, die meinen, Auskunft geben zu können von der Natur und der Kreatürlichkeit des Menschen in ebensolcher Weise, wie, oder vielleicht sogar genauer, als von der Welt Für-Uns, da sie diese von jenen nicht unterscheiden können oder wollen?
In welchem Licht erscheinen uns nun, das bisher Ausgeführte in Rechnung gestellt, die weltweiten Maßnahmen gegen das Corona-Virus und die in ganz vielfältiger Ausprägung erscheinende und von vermeintlich ganz unterschiedlichen Positionen aus geäußerte Kritik an jenen Maßnahmen?
Selten repräsentiert sich der Charakter der Natur als unergründliches An-Sich und als existenzielle Bedrohung für den Menschen in so beinahe „augenfälliger“ „Form“, wie in diesem Virus: Man merkt nichts von seinem Zugriff, man ist sein Knecht, erfüllt seinen „Willen“ (die Ansteckung anderer), und hält sich dabei für frei. Seine Macht ist so absolut, seine „Willkür“ so grenzenlos, dass er, letztendlich (bis jetzt) vollkommen unnachvollziehbar für uns, den einen nicht einmal niesen, den anderen auf grauenhafte Weise sterben macht. — Ecce hostis! – und so „leibhaftig“, man sieht ihn nicht einmal! Dass er weniger gefährlich ist, als viele seiner Vorgänger, tut auf dieser grundsätzlichen Ebene nichts zur Sache.
Als zivilisatorische Funktion zielen die weltweiten Maßnahmen ab auf die Abwehr jenes bösen Feindes. Sie sind ebenso typisch, wie bemerkenswert. Letzteres aus zwei Gründnen: einerseits ist die Größenordnung unerhört, andererseits zeigt sich, auf ganz überraschende Weise, wie weit jene beschriebene, durch die Natur gebildete unüberwindbare Grenze durch unsere modernen Gesellschaften vorgeschoben werden konnte: es besteht eine reale Chance, das Virus nicht bloß einzudämmen, abzubremsen, sondern seinem natürlichen Lauf in fundamentaler Weise zu entreißen. Welche Generation vor uns konnte von solchen Möglichkeiten auch nur träumen? Ein vollständig neuer Gegener, wir wissen nicht einmal wirklich, wo er steht; ein Schuss; ein Treffer! Es wird uns plötzlich klar, dass wir das Unabänderbare in manchen Bereichen nicht mehr bloß hinausschieben, sondern den bösen Feind endgültig vernichten können. Ein Zeitalter, das es wirklich verdienen würde, der Äon des Menschen genannt zu werden – es zieht natürlich noch nicht herauf, doch es ist nicht mehr nur bloße Utopie.
Von der traurigen Einsicht, dass für die Verwirklichung dieses Zieles die Kreatürlichkeit des Menschen ein größeres Hindernis darstellen würde, als die äußere Natur, wollen wir schweigen. Auch steht es an dieser Stelle nicht zur Debatte, ob es wirklich wünschenswert wäre, die sich bietenden Möglichkeiten in Hinisicht auf die Bekämpfung des Virus voll auszuschöpfen. Dies kann nicht Gegenstand einer grundsätzlichen Betrachtung, sondern muss das Ergebnis einer gründlichen Abwegung von Nutzen und Schaden einschlägiger Maßnahmen sein – und eine solche spricht vermutlich gegen die praktische Anwendung all dessen, was sich als möglich erwiesen hat.
Grundsätzlich ist hingegen die Feststellung, dass die eben entwickelten Aussichten jeden Menschenfreund (und wer behauptet nicht von sich, ein solcher zu sein?) euphorisieren, jeden, der die Ermächtigung des Menschen, die Steigerung seiner Fähigkeit die Welt zu verstehen und die Verwirklichung eines wirklich menschenwürdigen Lebens für alle (was, wie wir gesehen haben, alles in eins fällt) als sein Ziel deklariert hat, mit Zuversicht und dem Willen zur Mitarbeit erfüllen müsste. Doch welches erbärmliche Schauspiel müssen wir stattdessen mit ansehen?
Betrachten wir zunächst das Offensichtlichste: Eine drohende Führungsrolle des Mobs der Zivilisations- und Menschenfeinde in politischen und gesellschaftlichen Fragen. Die Krise rund um die Pandemie wirkt auch in diesem Bereich wie ein Vergrößerungsglas. Sah es zu Beginn noch so aus (und die Motivation, diesen Text zu schreiben, datiert aus dieser Phase), als könnte die selten so ausgeprägte Klarheit in der Sichtbarkeit von Bedrohung und Mittel zu ihrer Abwehr (von Natur und zivilisatorischer Funktion also) zu einer Eindämmung der sich in jener Tendenz zur Führungsrolle des Mobs manifestierenden fortgesetzten Zersetzungserscheinungen unserer modernen Gesellschaften (hin zu „post-modernen“ solchen) führen, scheint es nun, als würde die Situation langsam zu unser aller Unglück kippen.
Wenn es eine Konstante in den in fundamentaler Opposition zur Aufklärung und zur Moderne stehenden politischen Strömungen der letzten zweihundert Jahre gibt, dann ist diese die Ablehnung der Zivilisation und ihrer Instrumentarien und die Glorifizierung des An-Sichs als eines „Eigentlichen“, durch die Zivilisation Korrumpierten, zu dem man nur zurückkehren müsse, um alle erdenklichen Probleme zu lösen. Ein langer, dicker, roter Faden führt von Rousseau und den Romantikern über die Lebensreformer und völkischen Theoretiker der vorletzten Jahrhundertwende, auch über die Nazis und andere Totalitarismen, zu manchen Strömungen der radikalen Grünbewegung und der trendigen esoterischen Afterreligiösität unserer Tage. Und wer kennt sie nicht, die in dieser Tradition stehenden Dummheiten, die uns gerade im Zusammenhang mit Corona von allen Seiten um die Ohren geschlagen werden?
„Die Natur schlägt zurück“ (jaja, das tut sie!), „Wer Fledermäuse frisst, darf sich nicht wundern, dass...“, „So gleicht die Natur die Überbevölkerung aus, wenn wir es schon nicht mehr tun – is so!“, sagen die einen, die eher in der Tradition faschistischen bierschwangeren Stammtischgegröhles stehen; „durch sein Eindringen in unberührte Naturräume wird der Mensch auch in Zukunft solche Effekte provozieren, und Überhaupt: das Klima...“ sagen die anderen, die bisher geglaubt haben, mit den einen nicht nur nichts zu tun zu haben, sondern ihnen in weltanschaulicher Hinischt regelrecht entgegengesetzt zu sein. – Bis jetzt!
Die Krise wirkt, wie gesagt, wie ein Vergrößerungsglas, sie lässt Zusammenhänge besser sichtbar werden. Jetzt endlich erkennen Faschisten und Grüne-Khmer, was wir, die wir die Frage nach dem Menschen in der oben dargestellten Weise beantwortet haben, schon lange wussten. Dass sie nämlich im Grunde zusammengehören, so sehr sie sich in vergangenen Konflikten auch aus Unkenntnis bekämpft haben. Schon bilden sich – gar nicht so „quere“ – „Querfronten“ zur gemeinsamen Zerstörung der zivilisatorischen Abwehrleistung gegen das An-Sich. Der Mensch soll, geht es nach ihnen, wieder Sklave sein der alles zermalmenden Natur. Dabei führen sie, wie schon alle ihre Vorgänger vor ihnen, das große Wort „Freiheit“ im Mund, ohne überhaupt zu wissen, was Freiheit ist.
Mit der Diffamierung menschlicher Freiheit und damit des Menschen selbst geht auch die Auflösung der Welt der empirischen Tatsachen einher: Von Anfang an ist zu beobachten, dass die vorgenbrachten „Argumente“ gegen die weltweit eingeleiteten Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus in schneller Folge wechseln. Sie sind nicht nur beliebig, sondern stehen oftmals auch in einem regelrecht widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Sie sind also nur motiviert durch die Ablehnung der zivilisatorischen Funktion. Sie konstituieren damit keine neue Welt, sondern wollen nur die vorhandene zerstören. So fallen, ganz analog zu anthropologischer Differenz, menschlicher Freiheit und empirischer Wirklichkeit, auch die populären Versuche ihrer jeweiligen Vernichtung in eins.
Doch von Anfang an beschränkte sich der Kampf gegen die zivilisatorische Funktion der Maßnahmen gegen das Virus nicht auf jene gerade vorgestellten Kreise, sondern erhielt Schützenhilfe von verschiedenen Intellektuellen unterschiedlichster Profession und Ausrichtung. Die Gründe für ihre Unterstützung mögen recht unterschiedlich gewesen sein. Selten jedoch deckte sich ideologisches Programm und oben beschriebenes gesamtgesellschaftliches Ergebnis in solcher Weise wie bei Giorgio Agamben, der sich in den letzten Wochen mehrmals zu Wort gemeldet hat.
Seine für das Thema relevante philosophische Position ist die einer grundlegenden Zivilisationskritik. Sie ist begründet in Beobachtungen der Tendenz moderner Gesellschaften, auch die biologischen Funktionen des Menschen (also seine Kreatürlichkeit) in zunehmenden Maße qua zivilisatorischer Funktion zu einem Für-Uns zu machen. Konkret geht es zum Beispiel um gesundheitspolitische Überlegungen und die Durchsetzung ihrer Ergebnisse auf juristischem oder erzieherischem Weg. Agambens zentrale Überlegung ist hier, dass die verschiedenen zivilisatorischen Strategien zur Niederhaltung der Kreatürlichkeit – gleichgültig, ob sie nun in Sozial- oder in Selbstdiziplinierung bestünden – und ihr Zwangscharakter den Menschen vom „eigentlichen Menschen“, der in der Kreatürlichkeit verortet sei, entfremden, und ihn daher in grundlegender Weise unfrei machen würden. Hierbei steht er in der Tradition eines ähnlich problematischen Kopfes, nämlich Michel Foucaults.
So wahr jene Postulate im Verhältnis von einzelnem Individuum und Gesellschaft sein können (beispielsweise wird im Sozialisationsprozess immer Zwang angewandt), so falsch und irreführend sind sie auf grundsätzlicher Ebene: Da Agamben das An-Sich, die Kreatürlichkeit im Menschen als das eigentlich Menschliche begreifen will, verkehrt sich unter seinen Händen die menschliche Fähigkeit zur Schaffung einer Welt für-uns, also die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit, zum Hauptgrund menschlicher Unfreiheit. Ganz zwangsläufig findet sich daher in einem seiner letzten Artikel als krönender Abschluss einer Einlassung über angebliche negative demokratiepolitische Folgen (also Folgen die Freiheit des Menschen betreffend) der Maßnahmen folgender Satz:
„Die menschliche Spezies zeichnet sich dadurch aus, dass sich die natürlichen Lebensprozesse der Anpassung an die Umwelt langsam abschwächen. In der Moderne werden sie von einem hypertrophen Wachstum technischer Apparaturen ersetzt, die die Umwelt an den Menschen anpassen.“
Was heißt das? Dem Philosophen des An-Sich und der Kreatürlichkeit wird einfach zu wenig gestorben in unserer modernen Welt. Denn: eine Umkehr dieser – wie er selbst zugibt – wesentlichen menschlichen Tendenz wäre nichts anderes als die Aufgabe der Zivilisation und ihres Kampfes gegen die beständige Vernichtung der Individuen im ewigen Lebensprozess.
Ein Einwand wird wohl nicht lange auf sich waren lassen, nämlich: Er – und mit ihm nicht nur jede Menge Intellektuelle, sondern auch ganze Armeen von weiter oben beschriebenen Figuren – kritisiere ja nur die modernen Auswüchse der Zivilisation. Wir dürfen in dieser Hinsicht mit Verweis auf die ganz oben ausgeführten grundsätzlichen Überlegungen über die Motivation und den Zweck der Entwicklung von zivilisatorischen Funktionen fragen: Was hat sich in den letzten zehntausend Jahren qualitativ, also an dieser Motivation und an diesem Zweck geändert? Nichts! Die Veränderung ist rein quantitativ, besteht ausschließlich in der Ausweitung jener natürlich gegebenen und unüberwindlichen Grenze. Wer die Zivilisation im Stile eines Philosophen grundlegend kritisieren will, muss sie eben auf allen Ebenen und Entwicklungsstufen kritisieren und wird dabei – wenn er es ernst meint – ebenso menschenverachtende Forderungen stellen müssen, wie Agamben.
(Über ganz weite Strecken folgt der Text Überlegungen von Cornelius Castoriadis, die er in seinem Hauptwerk „Gesellschaft als imaginäre Institution“ auseinandergesetzt hat. Insbesondere die Ideen rund um die „zivilisatorische Funktion“ sind an seinem Konzept des „Imaginären“ und der „Institution“ orientiert. So findet sich die Vorstellung einer für die Mitglieder einer Gesellschaft verbindlichen und „ex nihilo“ von eben dieser Gesellschaft geschaffenen Welt Für-Uns beinahe wortwörtlich in jenem Buch. Ebensfalls das Zusammenfallen dieses schöpferischen Aktes und des Erkenntnisprozesses und die Vollständigkeit und Abgeschlossenheit des jeweiligen Für-Uns einer spezifischen Gesellschaft. Im Rahmen einer Abschlussarbeit habe ich mich vor ein paar Monaten schon einmal mit Castoriadis beschäftigt.
Ohne auf seine Philosophie Bezug zu nehmen, habe ich mir das Bild von der „dehnbaren, aber letztendlich unüberwindlichen natürlichen Grenze“, sowie die Erläuterung der Einzigartigkeit der menschlichen Art, eine Behausung zu bauen, anhand des Baus der Biene und des Vogels aus dem ersten Band des „Kapitals“ von Karl Marx ausgeborgt.
Weiters ist „Die Welt als Wille und Vorstellung“ von Schopenhauer als Einfluss zu nennen.
Die Sprache und die Begrifflichkeit sind, ob berechtigt oder nicht, recht deutlich an Kant orientiert.)