Krebs und Reha; der Tag an dem ich Beraterin für Harnblasenprobleme wurde

Ich bin eine große Anhängerin von psychoonkologischer Reha. In Deutschland wird man schon seit Jahren nach oder während einer Krebstherapie zuerst auf Anschlussheilbehandlung und später dann auf Reha geschickt. Wir in Österreich sind ja oftmals ein wenig später dran. So fand mein Aufenthalt in Kärnten im Jahr 2012 noch in der Probephase statt. Man musste zu Beginn und zum Ende des stationären Aufenthaltes und nach sechs Monaten diverse Fragebögen ausfüllen. Irgendwann in den folgenden Monaten wurde onkologische Reha auch in Österreich als Sozialversicherungsleistung ins Angebot für Krebspatienten aufgenommen. Ich empfehle allen Betroffenen, die ich ehrenamtlich begleite diese Maßnahme, weil sie ein wichtiger Schritt zurück in ein selbstbestimmtes Leben ist.

Zum ersten Mal auf Reha war ich auf eigenen Wunsch im benachbarten Bad Reichenhall in einer Spezialklinik für Kopf-, Prostata- und Brustkrebs Patientinnen. Ich bin vier Wochen nach der Operation, noch vor der Strahlen/Chemotherapie direkt aus der Klinik nach Reichenhall gewechselt, um dort ein wenig Kraft für die bevorstehende, sehr anstrengende Therapie zu sammeln. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon 8 Kilo verloren, konnte nicht alleine außer Haus gehen und verbrachte die freie Zeit vorwiegend in meinem Zimmer. Eines meiner Hauptanliegen war, langsam wieder mit dem Löffel essen zu können, um der Magensonde zu entgehen. Es gab drei Essenzeiten, die jeweils mit 1,5 Stunden angesetzt waren. Für mich ideal, denn so viel Zeit benötigte ich um etwa ein halbes Jogurt oder eine halbe Tasse mit dicker Suppe zu löffeln. Ich bin ein sehr geselliger Mensch und liebe Konversation bei Tisch.

Wie es der Zufall wollte, waren meine 5 Tischnachbarinnen alle Brustkrebspatientinnen und hatten sich somit sehr viel zu erzählen, während ich langsam löffelnd daneben saß und sehr bemüht war, dass mir das wenige Essen nicht wieder aus dem Luftröhrenschnitt rann. Die Damen interessierten sich auch nicht sonderlich für mich. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich jemand auch nur um meinen Namen gefragt hätte oder sonst irgendwie versucht hätte mit mir ins Gespräch zu kommen. Ja, verständlich, wenn man sein Thema gefunden hat und sich im Kreis von lauter Spezialistinnen befindet. Eine der Damen kristallisierte sich bereits am ersten Tag als Wortführerin heraus. Kaum näherte sie sich dem Tisch, ergoss sich bereits ein Redeschwall über die Anwesenden. Ihr absolutes Lieblingsthema war ihr Blasenproblem. Bereits am zweiten Tag wusste der halbe Speisesaal, wie oft sie nachts ihr Bett verlassen müsse und wie lange sie im Bad verweilen würde. Es schien, als würde sie jeden Urintropfen zählen, so detailliert erfolgten ihre Berichte. Diese Erzählungen wiederholten sich bei jeder Mahlzeit.

Spätestens am vierten Tag bemerkte ich, wie leichte Aggressionen in mir hochstiegen, als besagte Dame den Raum betrat. Die anderen Tischgenossinnen löffelten schweigend ihre Suppen, während das nächtliche Toilettenproblem lauthals geschildert wurde. Ich konnte zu dieser Zeit nur sehr undeutlich und mühevoll sprechen, deshalb verhielt ich mich beim Frühstück noch ruhig. Als beim Mittagessen jedoch das Urinier Problem schon während der Vorspeise wieder bis ins allerkleinste Detail ausgebreitet wurde, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Eigentlich hatte ich nicht wirklich freundliche Worte auf meiner verstümmelten Zunge, aber ich besann mich auf meine gute Erziehung und erklärte der Dame ganz kurz und sehr überzeugend, dass ihr Blasenproblem mit Sicherheit nur deshalb so präsent wäre, weil sie ständig darüber reden würde. Funkstille am Tisch. Abends verlief das Essen in abgekühlter Atmosphäre und fast ohne Gespräche.

Am nächsten Tag beim Frühstück bereitete ich mich schon auf das Pinkelproblem vor, als die Dame auf mich zustürzte, mir beinahe um den Hals fiel und mitteilte, dass sie die erste Nacht ohne Toilettengang durchschlafen konnte. Und das nur, weil sie sich meinen Ratschlag zu Herzen genommen hatte und ganz intensiv daran dachte, ja nicht an ihr Blasenproblem zu denken. Sie bedankte sich überschwänglich und wortreich und bezog auch den halben Speisesaal mit ein. Das war die gute Nachricht, die weniger gute war die Tatsache, dass die Blasenproblem befreite Dame von diesem Zeitpunkt an für die restlichen Tage beschloss, mich mit Fragen zu anderen brisanten Themen zu bombardieren. Schwierig damals, weil ich wirklich kaum sprechen konnte und somit auch keine ausführlichen Ratschläge erteilen konnte.

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