Von meinen kurzen Gedanken über ein eventuelles Versterben im Zusammenhang mit meiner langen Operation habe ich berichtet. Nachdem ja diese kurzfristigen Befürchtungen schnell wieder verschwunden waren, war dies für mich wirklich kein Thema mehr.
Ich befand mich zwar in einer sehr erbärmlichen Situation, als inzwischen die dritte Woche der Bestrahlung begann und die erste Chemotherapie hinter mir lag, aber ich war unerschütterlich zuversichtlich, dass sich für mich alles zum Guten wenden würde. In meinem totalen Ehrgeiz hatte ich beschlossen auf eine Magensonde durch die Bauchdecke zu verzichten, denn ich wollte aus sehr eitlen Gründen nicht noch eine weitere Zerstörung an meinem Körperhinnehmen. Es handelte sich um ein kleines Loch oberhalb des Nabels, das ich partout nicht haben wollte. So war es für mich klar, dass ich natürlich meine Nahrung oral zu mir nehmen würde. Löffelweise. Das waren ca. 300 halbe Teelöffel über den ganzen Tag verteilt um wenigstens 1000 Kilokalorien in meinen Körper zu transferieren. Auf Grund des miserablen Zustandes meines Kehlkopfdeckels rann die Hälfte der Nahrung wieder durch den Luftröhrenschnitt aus dem Hals. Die Situation war prekär, aber ich wollte sämtliche Befürchtungen meiner behandelnden Ärzte nicht teilen.
Anfang August, kurz nach der Diagnose wog ich knapp 63 Kilo, acht Wochen später zeigte die Waage nur mehr 48. Seit Anfang Oktober war ich wieder stationär in der Klinik, weil die tägliche Fahrt von 3 km in die Klinik zu anstrengend geworden war und zuhause auch meine Ernährung nicht gewährleistet werden konnte. Im Krankenhaus konnten man mir intravenös Nahrung und Flüssigkeit zuführen. Leider begannen meine Venen zu streiken, so dass wieder ein Zentralvenenkatheder gelegt werden musste, der sich nach wenigen Tagen entzündete. Ich fühlt mich zwar schwach, aber trotzdem war ich äußerst zuversichtlich. Die Besorgnis des Klinikpersonals und auch meiner Familie fand ich sehr übertrieben.
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Mitte Oktober sollte der zweite Chemozyklus stattfinden, er musste aber wegen meines schlechten Allgemeinzustandes verschoben werden. Meine Blutwerte waren indiskutabel und ich konnte auch nicht mehr aufstehen. An manchen Tagen musste sogar die Strahlentherapie ausgesetzt werden. Ich war auch nicht mehr wirklich zu Kommunikation fähig, meist ersuchte ich meine Besucher nach kurzer Zeit sich wieder zu verabschieden, weil mir deren Anwesenheit zu viel wurde. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt auch zu keiner Körperpflege mehr fähig war und gewickelt werden musst, war ich in den lichten Momenten sehr positiv gestimmt. Ich habe schlicht selber nicht bemerkt, wie ernst es um mich stand. Einem neuerlichen Drängen durch die Ärzte zu einer Magensonde widersetzte ich mich souverän. In welche Gefahr ich mich dadurch brachte, habe ich einfach nicht begriffen. Ich war besessen von der Idee, alles im Griff zu haben.
Dann kam eine Nacht, an das Datum erinnere ich mich nicht mehr, in der ich wie ein Embryo zusammengekauert in meinem Bett lag und mit letzter Kraft der Nachtschwester klingelte. Durch Zufall, oder auch nicht, hatte in besagter Nacht eine Diplom-Schwester Dienst, zu der ich ein besonders inniges Verhältnis hatte. Sie trat an mein Bett und fragte nach meinem Begehr. Mehr als ihr anzudeuten, sie möge sich zu mir ans Bett setzen und meine Hand halten, gelang mir nicht. Sie fragte mich nochmals, ob ich irgendetwas haben möchte und meine Antwort beschränkte sich auf das Wort „Liebe“. Heute kann ich nicht mehr definieren, was ich damals genau damit ausdrücken wollte und welche Bedeutung Liebe für mich in dieser schweren Stunde hatte. Ich weiß nur, dass die Nachtschwester allein durch ihre Anwesenheit und durch das einfache Halten meiner Hand mir ein klein wenig zurück ins Leben geholfen hat.
Am nächsten Tag stand der diensthabende Oberarzt an meinem Bett und teilte mir mit, dass er ohne meine Einwilligung für den nächsten Tag einen Termin für die Sondenlegung vereinbart hätte. Ich konnte nichts sagen, innerlich rebellierte ich jedoch, da eine derartige Entscheidung nicht ohne Einwilligung durch den Patienten erfolgen darf. Diese Maßnahme fand wirklich im letzten Augenblick über meinen Kopf hinweg statt. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Worte des Oberarztes, die in etwa lauteten: " Frau Braunstein, es ist mit wirklich wurscht, was Sie jetzt über mich denken, oder ob sie jemals wieder ein Wort mit mir reden, von mir aus klagen sie mich, aber der Termin steht!" Es dauerte mehr als eine Woche bis die Sondenanlage auch funktionierte, weil mein Körper schon fast zu schwach war, um die Nahrung auch aufzunehmen. Ich wurde dann auch von meiner Heimat-Abteilung auf die Onkologie verlegt, auf der ich dann noch einige Zeit verbrachte.
Erst viele Monate später bei einer Nachkontrolle erfuhr ich im Gespräch mit einem der Ärzte, wie prekär die Situation damals war. Heute weiß ich, dass in diesen Tagen im Oktober 2011, der Tod sehr heftig seine Hand nach mir ausgestreckt hatte. Ich hielt sie vermutlich auch schon, aber nicht fest genug, um sie nicht im letzten Augenblick wieder los zu lassen. Ohne die Entscheidung des Oberaztes würde ich vermutlich heute diese Zeilen nicht tippen.
Ich erzähle meine Erfahrung auch des Öfteren Patienten, die sich so wie ich damals gegen eine Magensonde aussprechen. Viele Menschen haben eine falsche Vorstellung über die Ernährung mit einer PEG-Sonde. Ich möchte mit meiner Erzählung den akut Erkrankten keine Angst machen, sondern eine vorsichtige Warnung aussprechen. Oft gelinge es dann auch, dass nach vielen gescheiterten Erklärungsversuchen durch Ärzte oder Pflegepersonal, der Patient sich durch meine Betroffenensicht doch für eine Sonde entscheidet.