Viele werden sich in diesen Tagen an die bis dahin größte zivile Atomkatastrophe am 26. April 1986 erinnern. Bei uns wurde nach meiner Erinnerung erst am 27. oder sogar 28. April darüber berichtet. Erst sehr zögerlich von einer Wolke über Skandinavien, von der man nicht sagen konnte, woher sie stammen würde. Erst sehr langsam wurde klar, dass in der Ukraine, genauer gesagt in Tschernobyl, ein Kernreaktor außer Kontrolle geraten war. Welche Ausmaße dieser Unfall tatsächlich hatte, wurde erst nach Wochen, wenn nicht Monaten realisiert. In den Tagen nach er Explosion wurden viele entgegengesetzte Meldungen verbreitet, kaum jemand wusste wie man sich wirklich verhalten sollte. Mein ältester Sohn war damals knapp ein Jahr alt, aber schon sehr fleißig zu Fuß unterwegs. Das bedeutete, dass wir die Sandkiste ausräumten und das Kind nicht mehr in der Wiese laufen durfte. Eigentlich verbrachten wir die ersten Tage hauptsächlich zu Hause, weil es so viele Ungereimtheiten gab. Frischmilch hatte ich vom Speiseplan gestrichen, stattdessen gab es Haltbarmilch, die vor dem Unfalldatum erzeugt wurde. Salat, Gemüse und Obst aus der Region gab es in den kommenden Monaten keine bei uns am Tisch. Ich hortete auch Mineralwasser im Keller, weil die Trinkwassersituation nicht geklärt war. Vom Verzehr von Pilzen wurde komplett abgeraten. Ja, die Situation war mitunter sehr gespenstisch.
Von Schwangerschaften wurde übrigens nicht abgeraten. So geschah es, dass ich im Spätsommer des Jahres 1986 neuerlich ein Kind erwartete.
Im Herbst verblasste das Thema Tschernobyl langsam und der normale Alltag kehrte zurück. Die Nachrichten über die Folgen des Reaktorunfalles wurden immer spärlicher. Der Winter zog ins Land, Tschernobyl war irgendwie vergessen. Ab und zu las man von missgebildeten Kälbern mit zwei Köpfen oder fünf Gliedmaßen, aber ein Zusammenhang mit dem atomaren Unfall wurde gerne zerstreut oder als Hysterie dargestellt. 1987 zog ins Land, ich hatte inzwischen die halbe Schwangerschaft hinter mir, als mein Arzt bei einer der regelmäßigen Untersuchungen, denen ich mich immer unterzog, ein Hydramnion, das ist ein Überschuss an Fruchtwasser, feststellte und mich umgehend an die Klinik verwies. So ging ich zwei Tage später zum kurzfristig vereinbarten Untersuchungstermin ins Krankenhaus. Dort erwartete man mich bereits und zog mich allen Wartenden vor, was schon einige Beklemmungen in mir auslöste. Der Primar persönlich begrüßte mich und bat mich in den Ultraschall-Raum. Nach nicht einmal zwei Minuten unterbrach er die Untersuchung und bat mich, meinen Mann anzurufen, da das Ergebnis sehr ernst wäre und er meinte, das würde uns beide als Eltern betreffen. Mein Mann kam wenig später in die Klinik und es wurde uns ein erstes Untersuchungsergebnis mitgeteilt. Das Kind hatte nur ein Bein, einen Arm, einen offenen Rücken und einen offenen Bauch. Statt eines Gesichtes eine Kiefergaumenspalte, die beinahe den gesamten Gesichtsbereich einnahm. Das Kind war so schwer behindert, dass es an ein Wunder grenzte, dass es überhaupt so lange im Uterus überleben konnte.
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Wir wurden medizinisch bestens aufgeklärt und schon ab dem ersten Augenblick war klar, dass dieses Kind mein Leben in Gefahr bringen und ein Abbruch stattfinden würde. Es erstaunte mich sehr, dass es einen nicht unerheblichen Teil an werdenden Eltern gibt, die sich in solchen Situationen gegen eine erzwungene Geburt entscheiden und so das Leben der Mutter in Gefahr bringen. In einer so weit fortgeschrittenen Schwangerschaft – ich war damals am Beginn der 24. Woche – wird die Geburt eingeleitet und nicht eine herkömmliche Abtreibung vorgenommen, was eine große psychische Herausforderung darstellt, weil so ein Geburtsvorgang oft sehr lange dauern kann.
Die wirklich große Frage stellte sich dann in den kommenden Wochen. Nämlich, woher diese massiven Fehlbildungen am Fötus stammten. Deshalb wurde vor der Geburt noch ein sehr ausgedehnter Videoschall mit meiner Einwilligung erstellt und auch eine Fruchtwasseruntersuchung durchgeführt. Der Fötus wurde nach der Entbindung einer genauen Obduktion unterzogen, bei der man erst das Geschlecht feststellen konnte, ein Mädchen. Nun kam die Frage nach einer Erberkrankung, die ausschließlich weibliche Nachkommen trifft, weil es in der Familie meines Mannes väterlicherseits seit Generationen keine weiblichen Nachkommen gibt. Das konnte rasch entkräftigt werden, denn ein genetischer Defekt wurde nicht entdeckt. Mein leiblicher Vater, er war Atomphysiker am CERN, machte mich bereits damals darauf aufmerksam, dass das Kind möglicherweise auf Grund der erhöhten Strahlenbelastung in der Frühschwangerschaft diese Schäden erhalten hätte. Diese Annahme wurde seitens der Mediziner über viele Jahre als Unfug dargestellt, erst nach fast zehn Jahren wurde eingeräumt, dass das Kind tatsächlich durch die sehr starke Strahlenbelastung in der 5. oder 6. Schwangerschaftswoche diese Zellteilungsschäden erlitten hätte, weil die Entwicklung stellenweise unterbrochen wurde. Meine persönlichen Konsequenzen waren, dass ich viele Monate auf die Freigabe für eine weitere Schwangerschaft warten musste. Und dass die weiteren drei Schangerschaften sehr intensiv als Risikoschangerschaften überwacht wurden, was manchmal sehr belastend war, obwohl es mir prächtig ging.
Manchmal, an Tagen wie diesen, denke ich daran, welch ein Mensch aus diesem kleinen Mädchen wohl geworden wäre.
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