Was die russische Armeeführung von diesem Krieg denkt.

Generaloberst Leonid Iwaschow hielt am 30.01.2022 eine mutige Rede in der der Redner an Präsident Putin appelliert, nicht in die Ukraine einzumarschieren, sondern auch die realen Gefahren und Widersprüche von Russland aufzeigt.

"Heute lebt die Menschheit in Erwartung eines Krieges. Ein Krieg bedeutet unweigerlich den Verlust von Menschenleben, Zerstörung, das Leiden sehr vieler Menschen, die Zerstörung ihrer Lebensweise sowie die ganzer Nationen und Völker. Ein großer Krieg ist eine große Tragödie, ein schweres Verbrechen. Diese Katastrophe droht nun Russland. Und das vielleicht zum ersten Mal in seiner Geschichte.

Zuvor hatte Russland (die Sowjetunion) nur nötige, und dann auch gerechte Krieg geführt. Und zwar in der Regel dann, wenn es keinen anderen Ausweg gab, wenn die Interessen des Staates und der Gesellschaft bedroht waren."

Bis hierher könnte man Einwände erheben, aber die russische Sicht kann tatsächlich etwas anders sein. Der russische Krieg in Syrien ist sicherlich nicht gerecht.

"Was bedroht heute die Existenz Russlands, und gibt es eine solche Bedrohung überhaupt? Man kann argumentieren, dass es tatsächlich Bedrohungen gibt - das Land steht kurz vor seinem Ende. Die Bevölkerungszahl sinkt stetig. Der Populationsschwund bricht weltweit Rekorde, und der Rückgang ist systematisch. In jedem komplexen System kann ein kleiner Fehler zum Zusammenbruch führen.

Dies ist unserer Meinung nach die größte Bedrohung für die Russische Föderation. Es handelt sich jedoch um eine innere Bedrohung. Grund dafür ist das Staatsmodell, sowie die Herrschaftsform und der Zustand der Gesellschaft. Die Gründe sind also interne: das unrentable Staatsmodell, die völlige Inkompetenz und Unprofessionalität des Macht- und Verwaltungssystems, die Passivität und Desorganisation der Gesellschaft. In einem solchen Zustand kann kein Land lange überleben."

Wer die Stadtgrenzen der großen russischen Städte wie Moskau überquert und über das weite Land fährt, sieht Dörfer mit zerfallenen Häusern. Kein Krieg zerstörte sie, sondern Bewohner verließen sie.

"Was die Bedrohungen von außen angeht: Diese sind durchaus vorhanden. Nach unserer Experteneinschätzung sind sie jedoch derzeit nicht kritisch und bedrohen nicht unmittelbar die Existenz der russischen Staatlichkeit oder ihre vitalen Interessen. Im Großen und Ganzen ist alles stabil, die Kernwaffen sind unter zuverlässiger Kontrolle, die NATO-Streitkräfte werden nicht aufgestockt, und es finden keine Aktivitäten statt, die Russland bedrohen.

Daher ist die Situation rund um die Ukraine in erster Linie künstlich hervorgerufen worden und dient dem Vorteil einiger innerer Kräfte in Russland. Infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, an dem Russland (Jelzin) maßgeblich beteiligt war, wurde die Ukraine ein unabhängiger Staat, Mitglied der UNO und hat gemäß Artikel 51 der UN-Charta das Recht auf individuelle und kollektive Verteidigung.

Die russische Führung hat die Ergebnisse des Referendums über die Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donetsk und Luhansk noch nicht anerkannt. Auch auf offizieller Ebene hat sie mehrmals, auch während des Minsker Verhandlungsprozesses, betont, dass deren Gebiete und Bevölkerung zur Ukraine gehören.

Sie hat auch mehrmals auf hoher Ebene erklärt, dass sie normale Beziehungen zu Kiew gewährleisten möchte, und keine Sonderbehandlung der Volksrepubliken Donetsk und Luhansk vorsieht.

Die Frage des Völkermords seitens Kiews in den südöstlichen Regionen wurde weder bei den Vereinten Nationen noch bei der OSZE angesprochen. Damit die Ukraine ein freundlicher Nachbar Russlands bleiben konnte, musste sie natürlich die Attraktivität des russischen Staatsmodells und Regierungssystems beteuern. Aber die russische Außenpolitik hat es geschafft, fast alle seine Nachbarn von sich zu entfremden, und nicht nur diese.

Die Übernahme der Krim und Sewastopols durch Russland und die Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft diese Gebiete nicht als russisch anerkennt (und daher die überwiegende Mehrheit der Staaten der Welt sie immer noch als zur Ukraine gehörig betrachtet), zeigt auf überzeugende Weise das Scheitern der russischen Außenpolitik und die Unattraktivität der russischen Innenpolitik.

Der Versuch, die Menschen durch Gewaltandrohungen zu zwingen, die Russische Föderation und ihre Führung zu „lieben“, ist sinnlos und äußerst gefährlich.

Die Anwendung militärischer Gewalt gegen die Ukraine würde erstens die Existenz Russlands selbst als Staat in Frage stellen und zweitens Russen und Ukrainer für immer zu Todfeinden machen. Drittens werden auf der einen wie auf der anderen Seite Tausende (Zehntausende) junger, gesunder Menschen getötet. Das würde sich mit Sicherheit auf die künftige demographische Situation in unseren aussterbenden Ländern auswirken."

Wer über das weite Land der Ukraine gefahren ist, hat dort auch verlassene Dörfer gesehen oder Bauern, die sich selbst vor den Pflug spannten. Seit kurzem haben sie Panzer für die Feldarbeit.

"Wenn dies geschieht, werden die russischen Truppen auf dem Schlachtfeld nicht nur ukrainischen Soldaten gegenüberstehen, unter denen auch viele Russen sind, sondern auch Soldaten vieler NATO-Länder. Und die Mitgliedstaaten des Bündnisses werden gezwungen sein, Russland den Krieg zu erklären."

Glücklicherweise ist das noch nicht geschehen, aber wer will ausschließen, dass das nicht bald der Fall ist.

"Der türkische Staatspräsident Erdogan hat deutlich gemacht, auf welcher Seite die Türkei kämpfen wird. Und wir können davon ausgehen, dass die beiden türkischen Feldarmeen und die Marine den Befehl erhalten werden, die Krim und Sewastopol zu „befreien“ und möglicherweise in den Kaukasus einzumarschieren.

Darüber hinaus würde Russland eindeutig in die Kategorie der Länder eingestuft werden, die den Frieden und die internationale Sicherheit bedrohen, mit schweren Sanktionen belegt, aus der internationalen Gemeinschaft ausgestoßen und wahrscheinlich seines Status als unabhängiger Staat beraubt werden.

Der Präsident und die Regierung, sowie das Verteidigungsministerium können solche Konsequenzen nicht einfach ignorieren, so dumm sind sie nicht.

Es stellt sich die Frage: Weshalb provoziert Russland einen Krieg, der zu großen Feindseligkeiten führen könnte? Dass es zu solchen kommen wird, ist klar, wenn man die militärische Stärke beider Seiten betrachtet - mindestens hunderttausend Mann auf jeder Seite. Zumal Russland Truppen aus dem Osten des Landes an die Grenze zur Ukraine verlegt hat.

Wir sind der Meinung, dass die Führung des Landes erkannt hat, dass sie das Land nicht aus der Systemkrise hinausführen kann. Sie hat erkannt, dass diese Unfähigkeit zu einem Volksaufstand und einem Machtwechsel im Land führen könnte. Also hat sie mit Unterstützung der Oligarchie, der korrupten Beamten, der Staatsmedien und der Sicherheitsdienste beschlossen, die endgültige Zerstörung Russlands einzuleiten.

Mithilfe des Krieges könnten sie ihre Macht noch eine Weile erhalten und ihren vom Volk geraubten Reichtum bewahren. Wir können uns keine andere Erklärung vorstellen.

Wir, die Offiziere Russlands, fordern den Präsidenten der Russischen Föderation auf, seine verbrecherische Politik und die Provokation eines Krieges, in dem Russland allein gegen die vereinigten Kräfte des Westens stehen würde, aufzugeben. Wir fordern ihn auf, die Voraussetzungen für die praktische Umsetzung von Artikel 3 der Verfassung der Russischen Föderation zu schaffen und zurückzutreten.

Wir appellieren an alle Reservisten und pensionierten Soldaten und Bürger Russlands, wachsam und organisiert zu sein, die Forderungen des Rates der „Allrussischen Offiziersversammlung” zu unterstützen, sich aktiv der Propaganda und Entfesselung des Krieges zu widersetzen, um einen internen Bürgerkrieg mit dem Einsatz militärischer Gewalt zu verhindern."

Es stellen sich Fragen:

Ist, und wenn ja warum, der Vortragende, der in der Wir-Form spricht, noch auf freiem Fuß? Wie viele Offiziere Russlands stehen hinter dieser Rede?

Übersetzter Auszug.

Quelle: https://www.km.ru/v-rossii/2022/02/06/otnosheniya-rossii-i-ukrainy/895037-obrashchenie-obshcherossiiskogo-ofitserskogo

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