Ich bin seit Freitag in Athen. Weil überall Demos stattfinden und sich dunkelgrüne Polizei-Trucks postieren, fahren Oskar, mein Fotograf, und ich auf dem Motorrad. In den Verkehrslärm und das Hupen der Motorroller, die sich an den Autokolonnen vorbeischlängeln, mischt sich das Quietschen der Rollbalken. Sie gehen vor Läden runter, die früher schliessen und vor Banken, deren Geldautomaten leergeräumt sind. Jede Stadt hat ihren eigenen Klang. Zum Klang von Athen gehört jetzt dieses Quietschen.
Manche Straßenzüge bestehen nur noch aus heruntergelassenen Rollbalken mit wütenden Parolen aus Graffiti. Vor den Banken überall dasselbe Bild. Noch immer Menschenschlangen, nur nicht mehr so lang und chaotisch wie am Mittwoch. Griechische Bürger, die sich anstellen, um 60 Euro von ihrem selbstverdienten Geld zu bekommen. Da die Zwanziger knapp sind, verlassen die meisten mit einem 50-Euro-Schein den Platz.
Wir fahren in den Stadtteil Keramikos, zu Spyros und seinen Freunden (das Interview mit ihm könnt ihr heute in der "Krone" lesen). Spyros ist 67, hat lustige braune Augen und einen weissen Bart. Er kriegt nicht einmal 50 Euro von seiner Bank, denn die Erledigung seines Pensionsantrags dauert noch zwei Jahre. Deshalb sammelt er weiter Alteisen, für das es seit kurzem aber kein Geld mehr gibt, nur noch Schuldscheine. Spyros ist das, was man einen Fatalisten nennt. Griechenland wird das schon schaffen, meint er, notfalls auch ohne EU. Deshalb stimmt er heute "Oxi" - Nein!
Auf der Plaka herrscht seit Freitag Volksfeststimmung. Dort haben sich die "Oxi"-Anhänger, vor allem junge Leute, versammelt, grillen Fleisch, trinken Bier, rauchen und sitzen auf der Strasse und auf den Dächern der Haltestellen. Weiter nördlich, näher zum Parlament, lauschen die "Nai"-Fans den politische Reden. "Woher haben die bloß das Geld für diese Inszenierung" fragt Costas und zeigt auf die Tribünen und die flächendeckenden Transparente mit dem blauen EU-Symbol. Das Publikum scheint wohlsituiert und schwingt EU-Flaggen.
Über der Polemonos Straße im Viertel Pangrati kreisen gelbe Hubschrauber. Auf der Straße vor dem Haus Nummer 3 sitzt eine weisshaarige Frau in einem Blümchenkleid, sie ist 80 und sitzt jeden Tag hier, Sommer wie Winter. Hier fühlt sie sich nicht so einsam. Angeliki Stasou lebt von 500 Euro Witwenpension, ihr Mann starb vor zehn Jahren und besass eine kleine Fahrschule. Davon kann sie gerade mal leben, denn ihre Wohnung kostet 280, essen kann sie in der Kirche und versorgen muss sie nur ihren roten Kater Canello. Ihm hat sie in der Akazie vor der ebenerdigen Wohnung ein Baumhaus gebaut. Politik? Angeliki schaut ein wenig missmutig und saugt an ihrer Zigarette. "Es wird sich auch diesmal nichts ändern." Dann fügt sie hinzu: "Für uns, die kleinen Leute." Angeliki wird erst im letzten Moment entscheiden, ob sie "Ja" oder "Nein" stimmt.
Das Referendum war ein Fehler, erklärt Costas, weil es das Land spalten wird.
9.855.029 Griechinnen und Griechen müssen die schwerste Frage beantworten, die sich ein Land stellen kann. Weiter einsparen, bis Leute wie Spyros und Angeliki gar nichts mehr haben? Oder dem "Grexit" entgegensegeln?
Ich fühle mit diesem Volk. Und es gibt keinen Platz auf der Welt, an dem ich in diesen Tagen lieber sein möchte als in Athen.