Ich kann einfach nicht aufhören, an sie zu denken. Schlohweißes Haar, grüne Wollhaube, das zarte Figürchen war in einen Wintermantel gehüllt, der bestimmt schon einige Jahrzehnte überlebt hatte. Ihre braunen Augen funkelten, als ich beim Stop der U 4 am Schwedenplatz – stehend ein SMS auf meinem Blackberry checkend – um ein Haar in sie hineingefallen wäre. „Passen’s auf, ich hab‘ vor sechs Jahren eine Herzoperation nur knapp überlebt!“ Dabei deutete sie auf ihre Venen, man habe gleich zwei Beipässe legen müssen, alles verstopft, eine Katastrophe. Tschuldigung, murmelte ich betropetzt, tut mir wirklich Leid, und nahm neben Frau Rosa, 88, Platz.
Bis Schottenring hatte sie mir schon erzählt, dass sie von Meidling unterwegs hinaus nach Grinzing sei. Nachschauen, ob der Bärlauch nicht langsam blühe. Sie freue sich schon so auf den Bärlauchspinat, den sie mit einer kleinen Einbrenn zubereite, das koste praktisch nichts, dazu mehlige Erdäpfel, in Scheiben geschnitten, die sie auf ein Stückerl Bauchfleisch lege, das sie vorher in der Pfanne kurz anbrate. Kümmel, Salz und Pfeffer dazu, die ganzen Erdäpfel hätten dann den Geschmack von knusprigem Speck. Nach dem Krieg, fuhr Frau Rosa fort, habe sie Hunger gelitten, das präge einen Menschen doch das ganze Leben lang. Bei Rossauer Lände störte ein Rapid-Fan ihre Schilderungen, er schrie grinsend kranke Parolen in den Zug. Wer konnte, wich zurück. Nicht Frau Rosa. „Dem muss fad sein im Kopf“, flüsterte sie mir mit verschwörerischem Blick zu. „Wahrscheinlich arbeitslos. Wir haben nach dem Krieg ja jede Arbeit angenommen, egal wie viel Geld es gab. Hauptsache, wir haben überhaupt etwas verdient. Aber heutzutage...“ Sie komme mit wenig Geld aus, sehr wenig. Nicht viel mehr als einer, der stempeln gehe. Daran werde, so seufzte Frau Rosa bei Friedensbrücke, wohl auch die vielgepriesene Steuerreform nichts ändern. Sie fühle sich von den Politikern echt gefrotzelt. „Weil die allen Ernstes so tun, als könnte man Milliardenlöcher stopfen. Ja womit denn?“ fragte sie ausgerechnet mich. „Wir sind doch eh schon die längste Zeit bankrott!“
Es entstand ein Moment der Stille. Was hätte ich Frau Rosa sagen sollen? Dass ich gerade überlege, ob Faymann oder Mitterlehner oder Schelling der bessere Gesprächspartner für mein Sonntagsinterview wäre? Frau Rosa sagte auch nichts mehr, sie war in Gedanken wohl schon wieder beim Grinzinger Bärlauch. Zwischen Spittelau und Heiligenstadt sah ich, wie ihre zitternden Hände die Tasche, in dem sie ein Papiersackerl stecken hatte, fester umklammerten. „Muss ich schon aussteigen?“ „Ja, Frau Rosa“, erwiderte ich, „Sie müssen jetzt aussteigen. Ich fürchte aber, der Bärlauch wird noch nicht blühen.“ Am Bahnsteig hab‘ ich ihr noch nachgewunken, ich hatte es wie immer eilig, und sie rief: „Schön war das! Tut so gut, wenn man ein bissel reden kann!" Frau Rosa hatte mich nachdenklich gestimmt. War sie vielleicht eine jener Leserinnen und Leser, deren Meinung, Geschmack und Sorgen wir Journalisten immer gerne kennen würden? Wäre sie möglicherweise das viel bessere Interview als Faymann, Mitterlehner und Schelling zusammen? Ich werde Frau Rosa jedenfalls nicht so schnell vergessen. Als Journalistin nicht und auch nicht als Mensch, den sie mitgerissen und berührt hat.
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