Interviews sind immer auch ein Spiel mit Nähe und Distanz. Selten hab ich mich zwei Menschen – den Zielpunktverkäuferinnen MEINER Filiale in der Wiener Löwengasse – so nahe gefühlt. Warum kaufen wir beim grindigen Zielpunkt ein, haben mich meine Söhne – Merkur- und Billla-Fans – oft gefragt. Weil Einkaufen immer auch ein Bekenntnis ist. In meinem Fall zu diesen Frauen, die dort Tag für Tag Katzensand geschleppt, Dosen gestapelt, Sonderangebote arrangiert und dabei noch Kunden zugehört haben. Manuela und Sabine. Wie oft sie sich bei mir entschuldigt haben, weil Spaghetti Nummer 3 wieder nicht im Sortiment waren.
„Sie dürfen im Markt weder Interviews führen noch Fotos machen!“, ließ mir die Firmenleitung ausrichten. Kein Problem, sagte ich, dann stellen wir uns halt vor den Markt. Ich bin dann mit Manuela (sie ist 51 und stammt aus dem Retzer Land) und Sabine (30, Wienerin) auf einen Kaffee beim Celal gegangen. Das ist der Eissalon, der sich im Winter in einen Kartenspieltreff der türkischen Männer im Grätzl verwandelt. Frauen sind aber auch erlaubt, am Tisch im vorderen Raum.
„Jetzt sehen wir mal, wie so ein Interview abläuft“, meinte Sabine und zupfte nervös an ihrer dunkelblauen Zielpunkt-Jacke. Manuela hielt sich an ihrem Mokka fest. Für mich war es, wie wenn ich mit zwei flüchtigen Bekannten endlich mal in Ruhe reden kann. Nähe und Distanz. Es hat mich wütend und traurig gemacht, was sie mir anvertraut haben. Und diesmal fiel es mir wirklich schwer, auch professionelle Distanz zu wahren.
Manuela und Sabine. Insgesamt haben sie 31 Jahre lang für Zielpunkt gehackelt. Der Markt war ihr Zuhause, der kleine Pausenraum ihr Wohnzimmer. Was werden Sie am meisten vermissen, nachdem man Sie am Mittwoch abserviert hat? „Unsere Kunden“, antworteten Manuela und Sabine, „und natürlich unsere kleine Familie, die jetzt auseinandergerissen wird.“Es kamen jeden Tag dieselben Leute. Eine Arbeitslose, die eigentlich den ganzen Tag Zeit hätte, aber immer drei Minuten vor Ladenschluss reinschneite. Eine Dame, in deren Einkaufswagen immer viele Piccolo-Flaschen lagen, liebevoll „Frau Sekt“ genannt. Ein Herr, der so viel Mineralwasser kaufte, dass sie sich wunderten, wie er das alles trinken kann, das war der „Herr Vöslauer“. Einmal tauchte er tagelang nicht auf und sie machten sich Sorgen. Nach einer Woche dann die gute Nachricht: Herr Vöslauer lebt! Er ist nur krank.
So viel Wärme in dem ungeheizten Geschäftslokal, so viel Leidenschaft für einen Chef, der diesen Namen wahrlich nicht verdient. „Wir haben den feinen Herrn Pfeiffer nie zu Gesicht bekommen“, erzählten mir die beiden. Der letzte Chef habe wenigstens einmal im Jahr einen Herrn vorbeigeschickt, der ihnen frohe Weihnachten gewünscht habe.
Frohe Weihnachten. Nicht dieses Jahr. Kein Job, kein Geld. Nicht nur für Manuela und Sabine, sondern auch für 2700 andere. Darf ich Sie das fragen, wie viel man beim Zielpunkt verdient? Sabine nickte. Sie als Stellvertreterin verdiene knappe 1500 Euro netto, Manuela als Filialleiterin 1700 Euro. Sie seien zufrieden gewesen mit ihrem Gehalt , „man muss sich halt nach der Decke strecken.“ Als Alleinerzieherinnen sowieso. Manuelas Tochter und Sabines Sohn sind beim Zielpunkt aufgewachsen, haben Regale geschlichtet und rote Prozentmarkerl auf Abverkaufsware gepickt.
Einmal hatten sie einen Überfall, da lenkte ein Mädchen Sabine ab und wollte vorne Gutscheine kaufen, während ihr Begleiter hinten eine schwarze Maske überzog und Manuela zwang, den Tresor aufzusperren. Polizei, Spurensicherung, der Schock. Aber am nächsten Tag standen sie beide wieder im Laden.
Auch mit Dieben hatten sie’s zu tun. Eine vornehme Dame, eh genug Geld, kaufte einmal billige Schokolade, aber die teure hatte sie im Ledermantel versteckt. „Wir kassierten die 80 Euro Strafe, und baten sie, nicht mehr bei uns einzukaufen. Denn wenn wir Anzeige erstatten, – oft wegen einem Packerl Germ um 85 Cent! –, dann kommt die Polizei und wir haben wochenlang Detektive im Haus.“
Und dann war da noch die Augustin-Verkäuferin aus Osteuropa. Manchmal verkaufte sie den ganzen Tag lang kein einziges Exemplar. Dann habe ihre türkische Kollegin – „unser Aylinchen mit dem großen Herz“ – ihr eine Semmel gekauft und etwas zu trinken.
31 Jahre, 12 davon gemeinsam. Und dann ist man plötzlich nichts mehr wert. „Wo ist der Herr Faymann?“, fragten mich Manuela und Sabine und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Warum streckt er uns das Weihnachtsgeld nicht vor? Er kriegt es doch eh aus dem Fonds zurück.“
„Wo ist Herr Faymann?“, wurde der Titel meines Interviews auf krone.at. Fast hunderttausendmal abgerufen, schon am Sonntagmorgen. Ganz großes Drama, schrieb mir ein Kollege auf Whatsapp, aber das war die zynische Außensicht auf ein Schicksal und wieviele Klicks es generieren wird.
Das Büro Faymann hat mich noch am Samstagabend kontaktiert. Da entstehe der Eindruck, dass Faymann zuständig wäre (sein Statement lest ihr auf krone.at). Das sei aber Aufgabe der Gewerkschaft und die habe alles Menschenmögliche getan. Ja, sagte ich, aber nicht in der Vorstellung von zwei Frauen, die am Montag kein Novembergehalt und kein Weihnachtsgeld auf ihrem Konto haben werden.
Wer wird in drei Monaten noch von ihrer bitteren Geschichte berührt sein? Wer denkt heute noch an Griechenland, das in Flüchtlingschaos und Armut versinkt? Die Welt dreht sich weiter. Putin verhängt Sanktionen gegen die Türkei, Papst würdigt Märtyrer in Uganda, Klitschko blutig entthront. Auch meine eigene. Ich habe Rückenweh.
Aber ich könnte mir am Montag frei nehmen und schwimmen gehn. Manuela und Sabine aber stehen wie jeden Morgen um halb sieben in ihrer Filiale, hackeln weiter aus Angst, ihr geschäftstüchtiger Chef könnte ihnen aus einem Krankenstand noch einen Strick drehen.
Und was Faymann betrifft: Wer nach dieser Schweinerei in einem großen Interview über das „Kerneuoropa der Nettozahler“ und ein Kopftuchverbot an Schulen philosophiert und das Thema Nummer eins nicht einmal anschneidet, der darf sich nicht wundern, wenn er für Menschen wie Manuela und Sabine wie ein abgehobener Bonze wirkt. Weit weg von Nettozahlern wie ihnen, die jetzt ihr Konto um ein bescheidenes Monatsgehalt überziehen “dürfen“. Aber nicht, um Weihnachsgeschenke für ihre Kinder zu kaufen. Sondern um die Miete zu bezahlen und die Semmel, die sie in der Mittagspause bei Zielpunkt, im kleinen Aufenthaltskammerl hinter der Backabteilung, aufschneiden,eine abgepackte Extrawurst einlegen und am Mittag gemeinsam vor dem wärmenden Heizstrahler essen.
„Am Mittwoch, bei der Firmenleitersitzung, haben wir zwei Rauchfangkehrer gesehn“, erzählte Manuela mir am Schluss, „vielleicht bringen die uns Glück!“ Sabine hatte Tränen in den Augen. Wenn Menschen noch eher an Glückssymbole glauben als an die Politik – das sollte der Regierung zu denken geben.