Bald sind es neun Wochen, dass Aboud aus Syrien bei mir wohnt. Ich hab‘ mich daran gewöhnt, dass er zehn Löffel Zucker in seinen Schwarztee schaufelt, Suppennudeln in ganz viel Öl röstet, bevor er sie kocht und Zitronen samt Schale verspeist. An seinen fragenden Blick, als mir unlängst eine Freundin erzählt hat, dass sie auf der Flirt-App Tinder einen neuen Typen kennengelernt hat. An das Entsetzen in seinen Augen, als er hörte, dass der Kerl Sex zu dritt wollte und wir über dieses Ansinnen in lautes Gelächter ausbrachen. Ich bin für ihn als Frau mit Job und Kindern – nie verheiratet gewesen – sowieso ein geheimnisvolles Wesen. Wie von einem anderen Stern (er heißt Europa).
Integrationsminister Sebastian Kurz erklärte mir im Interview, das ich für die Sonntags-Krone geführt habe (ihr könnt es noch immer auf krone.at lesen), dass wir Flüchtlingen gegenüber unsere Grundwerte vom ersten Tag an vertreten müssten. Ich hätte ihn gerne noch gefragt, ob er die leiseste Ahnung davon hat, wie anstrengend das sein kann, wenn der Flüchtling gleich neben dir lebt.
Unsere Werte. Nie zuvor hab‘ ich so viel darüber nachgedacht, was unsere Gesellschaft stark macht, welche Werte absolut unverhandelbar sind und wie wir für sie einstehen können. Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, Würde. Aber auch meine persönlichen Werte: Unabhängigkeit, Leistung, Mut.
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Abouds bester Freund, Abdulrahim, ist schon ein Jahr lang in Wien. Jetzt ist seine Freundin nachgekommen und die beiden haben sofort geheiratet. Ich führte eine Diskussion darüber, wie wichtig es ist, dass Mädchen einen Beruf lernen und Geld verdienen, um sich nicht in die Abhängigkeit eines Mannes zu begeben. Er sah mich erstaunt an und meinte: In Syrien ist das anders.
Wo siehst du dich in fünf Jahren, fragte ich ihn in Anspielung auf die Lebenssituation seines Freundes. Manchmal schwappt die Sorge um seine Zukunft auf mich über und ich habe Muttergedanken. Wann wird er endlich studieren können? Womit wird er einmal sein Geld verdienen?
Er werde vielleicht Dolmetscher sein, meinte Aboud. Und sicher, ganz sicher eine Familie gegründet haben.
Es ergab sich folgender Dialog: Was für eine Frau wirst du heiraten?
Er antwortete unmissverständlich: Eine syrische Frau.
Warum?
Erst nannte er die gemeinsame Sprache als Grund, dann die gemeinsame Küche und schließlich die gemeinsamen arabisch sprechenden Kinder.
Theoretisch, nahm ich noch einen Anlauf, könnte eine Österreicherin auch deine Sprache lernen, ihr könntet gemeinsam Mhishy kochen und eure Kinder zweisprachig erziehen.
Er schüttelte den Kopf. Nie würde er eine europäische Frau heiraten, denn „sie haben Sex, mit wem sie wollen.“ Für ihn ist Sex vor der Ehe tabu (ich frage mich, wie lange).
Für uns, erklärte ich ihm, ist das eine Sache der persönlichen Freiheit. Jeder Mensch kann bei uns so leben, wie er möchte. Lieben, wen er möchte. Frauen können Männer lieben oder allein leben oder beides, Frauen können aber auch Frauen lieben, Männer können Männer lieben und alle können heiraten.
„Holy Crap!“ rief er und lief völlig geschockt davon.
Integration wird die größte Herausforderung Europas in der Zukunft sein. Da braucht es mehr als Wertekurse und Menschen wie mich und viele viele andere, die versuchen, für ihre Werte einzustehen und darüber zu diskutieren (wer vermittelt eigentlich Werte im Flüchtlingslager Traiskirchen und all den anderen Flüchtlingseinrichtungen?) Auch wir müssen diesen Menschen entgegenkommen. Ich bemühe mich jeden Tag, aber manchmal ist es mir einfach zu anstrengend.
Ich ertappe mich beim Zielpunkt (so lange es ihn gibt, kaufe ich treu dort ein) dabei, dass mich beim Schweinefleisch ein schlechtes Gefühl beschleicht. Wenn ich es kaufe, dann wird sich Aboud etwas anderes kochen und es gibt noch mehr schmutziges Geschirr.
Aber warum soll ich kein gebackenes Schweinsschnitzel mehr essen oder mit Schweineschmalz kochen, nur weil seine Religion es verbietet? Manchmal regt sich Trotz in mir und ich werde grantig. Dann schweigen wir beide und wir wollen wahrscheinlich beide gar nicht wissen, was der andere gerade denkt.
Aboud ist jetzt Botschafter für das Projekt Xchange des Roten Kreuzes. Er geht an Schulen und erzählt Zwölfjährigen von seiner Flucht. Aber meistens ist ihm langweilig. Sein erster Caritas-Termin verlief ohne Ergebnis, jetzt wartet er wieder auf seine Grundversorgung. Das Interview, seinen Asylantrag betreffend, findet erst im Jänner – vier Monate nach seiner Ankunft in Österreich – statt. Die Mindestsicherung ist noch in weiter Ferne.
Gemeinsam haben wir ein kleines Netzwerk aufgebaut. Kathi und Sandra nehmen ihn auf Einladungen mit und backen gemeinsam Kekse, Mariella hat Hebba aus Ägypten aktiviert, deren Freundin Nahla aus dem Libanon Aboud dreimal pro Woche unterrichtet, denn in einen Deutschkurs kommt er erst, wenn sein Antrag angenommen wurde.
Genetiv, Dativ, Akkusativ, wir üben, so oft wir können. Und er schaut ZiB 2, um ein paar deutsche Worte aufzuschnappen (bei Armin Wolf geht das gut, bei Lou Lorenz-Dittlbacher gibt er auf).
Ansonsten ist bei uns „Open House“. Oft kommen Freunde und sie trinken schwarzen, unheimlich süßen Tee in seinem Zimmer. Es sei so schön, Privatsphäre zu haben, in Sicherheit zu sein, sagt mir Aboud oft.
Und was ist das Schönste, hier in Wien, wollte ich von ihm wissen.
„That I can shave my beard“, lachte er.
Darauf ich: Warum hast du ihn dann nicht ganz abrasiert, als du bei deinem syrischen Friseur warst? Ich mag seinen Bart nicht.
„Because I am a man.“
Ich ersparte ihm meine Meinung über Machos...
Auch Aboud macht sich Sorgen um seine Zukunft. Wie lange kann ich bei dir wohnen, begann er heute morgen vorsichtig ein Gespräch.
So lange du es brauchst, habe ich ihm geantwortet.
Ich habe ihn ja auch sehr liebgewonnen, bei allem, was uns trennt. Ich hänge an unserem kleinen Ritual, dass jeder zweimal läutet, wenn er heimkommt. An der Gewissheit, dass immer Frischmilch für meinen Kaffee im Kühlschrank ist und dass er den Katzensand niemals ausgehen lässt. Dafür kaufe ich Chubz und Hummus für ihn ein.
Unlängst saß Aboud abends am Küchentisch und weinte. Ich war hilflos und fragte ihn, was passiert sei. Ich habe Heimweh, sagte er und spielte mir Soundbytes vor, die ihm ein Verwandter aus der Stadt geschickt hatte, in der sein Vater feststeckt. Fliegeralarm, Schüsse, Schreie. Da war der Krieg wieder präsent. Bei mir am Küchentisch. So nah wollte ich ihn nie an mich heranlassen.
Ich versuchte, ihn halbwegs zu trösten. Aboud zeigte mir ein Foto seines Vaters am Handy. Auf dem Schnappschuss sitzt er wie ein weiser alter König, bekleidet mit einem weißen Kaftan, auf einem Rattansessel und blickt ins Leere. Am nächsten Morgen lag ein Brief von Aboud auf meinem Tisch: „Conny, thanks a lot. It’s not anybodys fault, it is just the bad war.“
Jetzt, wo überall die Weihnachtssterne leuchten, Menschen Punsch trinken und wie verrückt Geschenke kaufen, kommt mir Aboud noch ein bisschen verlorener vor. Ich hab‘ versucht, ihm den Sinn des Festes zu erklären, das Christkind, die Herbergsuche und das alles. Ein mühsames Unterfangen, wenn man von ganz vorne beginnen muss, wie bei einem kleinen Kind.
Wir haben uns darauf geeinigt, dass er am Heiligen Abend gemeinsam mit syrischen Freunden für das Dessert zuständig sein wird. Ich weiß jetzt, dass es nach meinen zwei Waldviertler Biogänsen mit Erdäpfelknödel, Maroni und Rotkraut „Basbusa“ geben wird. Keine Ahnung, was es ist. Hauptsache, es wird auch ein kleines Bisschen SEIN Heiliger Abend sein.