#stolzdrauf: Stolz auf Berge? Im Ernst?

Neulich torkelte mir bei der U-Bahnstation Hietzing ein älterer Mann mit einem blutenden Cut auf der Stirn entgegen. Er war einer der Alkoholiker, die sich dort regelmäßig treffen, und offenbar gestürzt, oder in eine Schlägerei geraten – sprechen konnte er nicht mehr wirklich. Ich setzte ihn auf eine Bank, rief die Rettung, verschob meinen nächsten Termin, drückte ein Taschentuch auf die Wunde, und nach 10 Minuten war er in professioneller Betreuung.

In solchen Momenten schätze ich es ungemein, in Wien zu leben: Es ist eine Stadt, in der man es sich leisten kann, zu helfen, wenn jemand in Not ist. Schon in Paris oder London müsste man vermutlich wegsehen und weitergehen – weil es zu viel Elend auf der Straße gibt. Und wer mal in einem Land mit Hungersnot war ,kennt das entsetzliche Gefühl, wenn man die Autofenster schließen muss, während hungernde Straßenkinder an die Scheibe schlagen – weil man nicht jedem davon etwas zu Essen organisieren kann. Weil es zu viele sind. In solchen Ländern stumpfen die reicheren Leute ab, montieren Stacheldraht an ihre Zäune, bewaffnen ihre Nachtwächter und werden zynisch, wenn es um Armut geht. So wird man, wenn man das natürliche Bedürfnis, jemandem in Notlage zu helfen, täglich unterdrücken muss. Das muss man bei uns nicht, und so ist es möglich, dass täglich Einzelpersonen einspringen, wo es keine institutionelle Hilfe gibt (Googelt zB mal Julya Rabonowichi – Notaufnahme. Oder Sabine Beck – Bettler.)

Derzeit macht unter #stolzdrauf gerade eine Kampagne von Außenminister Sebastian Kurz die Runde, in der Menschen posten, warum sie auf Österreich stolz sind. Nun ist mir Nationalstolz völlig fremd – vielleicht ein Ergebnis des Auswachsens in mehreren Ländern: Ich kann dieses Gefühl des Stolzes auf eine Nation nicht nachvollziehen (und ich erkenne auch nicht, was er in den letzten 200 Jahren Positives gebracht haben soll.) Noch weniger verstehe ich, wenn Leute posten: „Ich bin stolz auf unsere wunderschönen Berge und Seen.“ Stolz auf Berge? Im Ernst? Muss man nicht zumindest ein winziges bisschen zu etwas beigetragen haben, um Stolz zu verspüren?

Aber darauf kann man als Kollektiv vielleicht stolz sein: Eine Gesellschaft, in der das soziale Netz engmaschig genug ist, dass der Einzelne sich leisten kann, stehen zu bleiben, wenn er auf der Straße jemanden in Not sieht. Leute tun das bei uns: Sie bleiben stehen und fragen, wie sie helfen können. Und wenn mal niemand stehen bleibt, dann sorgt das für Empörung. Darauf können wir – alle miteinander – stolz sein, denn das erfordert eine Art kollektive Weigerung, Not hinzunehmen, tägliche Arbeit daran, und einen gewissen Gemeinschaftssinn etwa beim Zahlen von Steuern. (Und es erfordert das Aufzeigen von Missständen, wie es unter #stolzdrauf jetzt auch geschieht.)

Insofern gebe ich zu, dass es praktischer ist, auf Berge stolz zu sein. Die gehen nicht weg, wenn man zu faul ist, sich um sie zu kümmern.

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