Wir schreiben Tag vier nach den Präsidentschaftswahlen. Obwohl offiziell noch nicht einmal der Wahlkampf zur Stichwahl begonnen hat, und der Ausgang durchaus offen erscheint, erlebt man in Österreich in Teilen der Wählerschaft aktuell einen politischen Zustand, den man getrost als Massenhysterie bezeichnen kann. Eine Auswahl der Erscheinungen:
Die ÖH (ansonsten im Bereich Kampf um Rechte/Mittel für die Studierenden Österreichs nicht wirklich sehr agil), hat bereits am Montag zu Demonstrationen gegen den blauen Kandidaten Hofer aufgerufen.
Im 2. Bezirk hat eine Lokalbesitzerin in ihrem wie sie meint "feministisch-antirassistischen" Kampf eine Tafel aufgestellt, in der sie Wähler des blauen Kandidaten Hofer zum Weitergehen und Nichtbetreten ihres Lokals auffordert. Vom daraufhin losbrechenden Shitstorm gab sich die bekennende Demokratin überrascht und entrüstet. "Jetzt kommen nur mehr Katzenbabies und Kuchen ins Facebook" – das ist als ihre abschliessende Conclusio hinsichtlich ihrer Aktivitäten festgehalten.
Herr Rauscher/Kolumnist im Standard entwirft in seiner Kolumne überhaupt ein Schreckensszenario einer "Orbanisierung" Österreichs nach einer Wahl Hofers, gefolgt vom üblen Plot eines stillen Staatsstreichs um eine FPÖ-Regierung zu installieren. In diversesten Artikeln, Blogs und Meinungsäußerungen wird vom drohenden "vierten Reich" spekuliert, Anleihen an 1938 genommen und schlicht Armageddon an die Wand gemalt. Betroffene Autoren suchen bereits nach neuen Heimatländern - man kann getrost von einem emotionalen Ausnahmezustand sprechen.
Man kann davon ausgehen, dass diese Beispiele erste Manifestation eines "Kulturkampfs" in der österreichischen Politiklandschaft sind. Es wird mit Sicherheit bis zur Stichwahl noch weitaus übler, schmutziger - und was bei einem nicht oportunen Wahlergebnis passiert, das will ich mir erst gar nicht vorstellen.
Festzuhalten ist, dass obwohl wir im Jahr 61 der österreichischen Demokratie halten, und unser politisches System schon so manche Schieflage ausgestanden hat, unser demokratiepolitisches Verständnis sich aber noch nicht wirklich entwickelt hat. Denn wie kann es sonst sein, dass allein schon das Antreten eines Vertreters der FPÖ zu einer Stichwahl zum Amt des Bundespräsidenten einen solchen Emotionsschub entlädt? Wie kann es sein, dass der Wahlkampf um ein Amt das bis vor kurzem als "lame duck" belächelt wurde, jetzt auf einmal zum Kampf "Gut gegen Böse" stilisiert wird - weil es einer der Kandidaten ausgesprochen hat, was der Amtsinhaber eigentlich schon immer verfassungsmässig an Möglichkeiten gehabt hätte? Weil er meinte, dass er diese verfassungsmässigen Rechte auch ausüben würde, so er gewählt wird?
Wie kann es sein, dass wir zwar bei einem der beiden Kandidaten seine "antidemokratische Haltung" heraufbeschwören, diese aber beim anderen Kandidaten einfach seinem knorrigen pseudo-intellektuellen Habitus gutschreiben. Wer sich die Aussagen eines Herrn Dr. Van der Bellen genauer betrachtet, der wird feststellen, dass dessen Amtsverständnis auch nicht wirklich ohne ist. Er hält von vorneherein fest, dass er sich als Bundespräsident bei der Auswahl einer Regierung über die Meinung des Wählervolkes stellt. Seine (grünen) Positionen zu Exekutive und Militär sind definitiv auch nicht parteiübergreifend/neutral, und zum Großteil auch nicht staatstragend (was aber vielleicht nicht unwichtig wäre, da er ja Oberbefehlshaber des Bundesheeres würde). Und ob seine Positionen zu heiklen Themen wie etwa Bewältigung der Flüchtlingskrise deckungsgleich mit dem Wählerwillen sind, ist auch zu hinterfragen.
Vielleicht sollten wir beginnen, uns zu fragen, was Demokratie eigentlich bedeutet. Wir sollten uns auch fragen, warum wir mehr Parteien als SPÖ und ÖVP in unserem Nationalrat sitzen haben.
Und angesichts des massiven Willen zu Veränderung und Neubeginn im politischen System, sollten wir uns die realistische Frage stellen: Wie soll das beginnen, wenn nicht durch Veränderung?
Wenn man die Äußerungen und Aktivitäten der Großparteien seit Sonntag betrachtet, so kann man getrost festhalten, dass es keinen realen Veränderungswillen innerhalb der Organisationen gibt. Im Gegenteil, mittlerweile hat man auf Ebene Landeshauptleute bereits mit den ersten Drohungen hinsichtlich vorgezogene Neuwahlen begonnen - wohl wissend, dass dies auch für die eigene Partei desaströs wäre.
Es gibt aus dieser Sackgasse des Stillstands und des jahrzehntelangen Proporzes nur den Ausweg eines dramatischen Moments des "noch nie dagewesenen".
Ein solcher Moment wird nach der Stichwahl zum Bundespräsidenten eintreten. Wir sollten uns die Chance auf einen tatsächlichen Neubeginn auch nicht durch hysterisches Winken mit der Nazi-Keule nehmen lassen.
Was ist nach der Angelobung der Regierung Schüssel passiert - ganz einfach, die damalige FPÖ hat sich in den Mühlen des politischen Alltags entzaubert. Ja, es hat teilweise Skandale und Amtsmissbrauch gegeben - aber sorry, den nehmen wir ja heute bei den Regierungsparteien und ihren Landeshauptleuten ja gar nicht mehr kritisch wahr.
Wir können auf die Stabilität unseres politischen Systems vertrauen, und es darauf ankommen lassen. Das einzige mögliche Szenario den Populisten und Anbietern einfacher Lösungen entgegenzutreten ist, sie nicht von politischen Ämtern fernzuhalten. Im Gegenteil, man muß sie antreten und scheitern lassen - dann werden auch die Wähler erkennen, dass es nicht die zwei Zeilen Antwort gibt auf globale Probleme unserer Zeit.
Und vielleicht schaffen es die beiden ehemaligen Großparteien eine solche Zäsur als Möglichkeit zur Neugründung, Neuformierung und Neudefinition zu sehen und zu nützen.
Aber: Wir müssen an dieses demokratische System glauben, und es auch leben. Nur dann sind wir demokratiepolitisch im 21. Jahrhundert angekommen.