Was uns die Serie "Tote Mädchen lügen nicht" über den Zustand unserer Gesellschaft verrät

Netflix https://www.youtube.com/watch?v=_ciYSC6fuQ8

Hannah ist tot - sie hat ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. Zuviel wurde ihr die Mischung aus Mobbying, sexuellen Übergriffen und Vorverurteilung an ihrer High-School. Doch Hannah möchte, dass ihre Peiniger auch nach ihrem Tod über sie, aber auch über ihr eigenes Verhalten nachdenken. Sie nimmt Kassetten auf - jede Kassette widmet sie einer Person, die aus ihrer Sicht Mitschuld an ihrem Selbstmord trägt. Die Box mit den Kassetten versendet sie an einen Mitschüler mit dem Auftrag, sie anzuhören. Mit jeder Kassette dringt der Mitschüler tiefer in die schlimme Geschichte von Hannah ein - der Selbstmord in der Badewanne(so heftig die Szene auch anzusehen ist) ist als solcher nur mehr der logische Schlusspunkt eines konsequenten Versagens jeglichen sozialen Gefüges im Umfeld des verzweifelten Teenagers.

Die Aufregung bei Erstausstrahlung über diese Netflix-Serie war groß. Psychologen erregten sich über das Potential, welches in dem Stoff steckt, welches labile Teenager zu Nachahmungstaten anleiten könnte. In Neuseeland wurde ein Verbot der Ausstrahlung der Selbstmordszene diskutiert - nur in Österreich wurde wie so oft nicht reagiert. Frei nach unserem Wappenspruch "Wird schon nicht so schlimm werden".

Und doch ist es schlimm geworden - zwei SchülerInnen eines Gymnasiums haben versucht, sich in ihrer Schule umzubringen - mit klarem Bezug zur Serie.

Die Verwirrungen und Leiden Heranwachsender waren schon immer Gegenstand der literarischen Aufarbeitung. Man denke an Goethe und seinen "Werther", Torberg mit dem "Schüler Gerber" um nur die prominentesten deutschen Werke zu nennen. Sie alle skizzieren das Verzweifeln von jungen Menschen an ihren Lebensrealitäten - sie alle führen den Selbstmord als Lösung, bzw. Fluchtweg aus den als Einbahnstraße wirkenden Umständen des eigenen Leidens ein. Und, sie sind nicht weniger brutal zu lesen als jetzt die kritisierte Fernsehserie. Wer über die ganze Länge des "Schüler Gerbers" nicht mitverzweifelt an den Ängsten des jungen Mannes, und schlussendlich auch den Selbstmord am Ende des Buches miterlebt ist mindestens genauso emotional mitgenommen wie ein Seher der Hannah und ihre Geschichte mitverfolgt.

Was sehen wir also so kritisch an diesen Fernsehserien? Denn grundsätzlich muß man Netflix ein Lob für die Verfilmung des Stoffes machen. Zwar ein Abo-Sender hat sich Netflix aber auch von Anfang an einen Namen gemacht mit Dokumentationen über die großen Problemstoffe der amerikanischen Gesellschaft. Ob "Hot girls wanted"(zum Thema Pornoindustrie) oder "Audrie & Daisy"(die Geschichte zweier Mädchen die von Mitschülern vergewaltigt wurden) - man hat Fernsehen geliefert wie es sein sollte, und wie wir es in Österreich schon lange nicht mehr kennen.Kritisch, nicht beschönigend und in der inneren Konsequenz dem Zuseher oft brutal viel abverlangend.

Nun, ein Erklärungsansatz könnte sein, dass "Tote Mädchen lügen nicht" dem Zuseher ein ungeschöntes Spiegelbild der eigenen Lebensrealität vorhält. Die eigenen Eltern in ihrem Leben und ihrer Karriere verfangen bekommen nichts von den Problemen des eigenen Kindes mit. Hilflos wirken die Versuche Kontakt mit dem Nachwuchs zu halten, fast schon lächerlich. Die Schule wird als Sumpf des Leidens präsentiert. Die Lehrer ähnlich wie die Eltern überfordert oder zum Teil auch nur am eigenen Vorteil interessiert. Und am schlimmsten ist die Mischung der Schülergemeinschaft. Die Bullys, die Star-Kinder der Reichen, die stillen Dulder - sie alle vergiften das Klima nachhaltig und sehr oft unsanktioniert. Der wesentliche Unterschied zu Gerber oder Werther ist, dass wir heute in der Zeit des Internets und der sozialen Medien leben. Begeht man eine Dummheit, denkt man nur einen Moment nicht mit, gerät man an einen übel meinenden Mitschüler - dann findet man sich im nächsten Moment im Netz wieder. Jugendsünden oder einfach leichtfertige Handlungen werden so global zugreifbar und die Erniedrigung eines Teenagers welche mit der Verbreitung von Nacktfotos einhergeht kann sich ein heutiger Erwachsener wahrscheinlich kaum vorstellen. Harmlos sind dagegen unsere Geschichten von Ski-Kursen und Matura-Reisen - denn nie waren wir der Gefahr ausgesetzt, dass unsere Verletztlichkeit quasi für die Unendlichkeit im Internet herumschwirrt.

Die Geschichte zeigt auch, wie hilflos die Schulen gegenüber Phänomenen wie etwa "Tote Mädchen lügen nicht" sind. Scheinbar versteht/begreift man in unserem Bildungssystem noch immer nicht, dass es heute nicht mehr Monate oder Jahre dauert, bis solche Serien/Themen oder auch nur Ausschnitte daraus global verteilt sind. Was würde dagegen sprechen, proaktiv den Unterricht auf das Thema der Serie zu fokussieren? Außer vielleicht der Tatsache, dass man die Vorbereitungsunterlagen für den Unterricht wieder einmal neu schreiben müßte?

Wir leben in einer Zeit, in der wir jederzeit an jedem Ort tausende "Freunde" im Internet kontaktieren können. Doch gleichzeitig leben wir auch in einer Zeit, in der junge Menschen in ihrer Not alleine sind, trotz all dieser virtuellen Kontakte/Freunde, trotz Elternhaus und auch LehrerInnen an ihren Schulen.

Nehmen wir eine Serie wie "Tote Mädchen lügen nicht" einfach als das, was sie sein sollte: Unterhaltung die auch eine gewisse Message mitliefern möchte - die Message, dass wir uns verstärkt mit unseren Mitmenschen auseinandersetzen sollten. Das wir dem Leid des Einzelnen in z.B. schulischen Situationen nicht stumpf und regungslos zuschauen sollen, sondern klar und eindeutig Position gegen Mobbying oder Mißbrauch nehmen müssen.

Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir - so lautet ein alter Spruch. Vielleicht sollen wir dann dafür sorgen, dass Zivilcourage und das Einsetzen für Schwächere zum Pflichtgegenstand wird.

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