Vorbemerkungen:
„Wie soll denn das bitte funktionieren?“ waren meine ersten Gedanken dazu. „Ich kann mich doch nicht ernsthaft um einen Job bewerben, ohne denen zu sagen, wer ich bin. Da könnte ja jeder kommen!“ Aber vielleicht erleichtert es unser Zusammenleben ja doch … warum wurde dieser Schritt dann noch nicht als gesetzliche Verpflichtung für alle Firmen gesetzt? Ich habe diese Themenstellung in erster Linie als Hausarbeit für meine Universität erarbeitet, dort lag der Fokus auf der rechtsphilosophischen Betrachtungsweise (für fischundfleisch zusammengekürzt, bei Interesse gerne in Langversion verfügbar), Kernthemen sind hierbei die Freiheit (des Personalverantwortlichen, ob er eine bestimmte Person einstellt) und das Gemeinwohl (ob das Zusammenleben dadurch erleichtert wird).
Die zugrundliegende Forderung mag sicherlich rasch umsetzbar scheinen, es gibt diesbezüglich einige positive Abschlussberichte von Pilotprojekten aus anderen europäischen Staaten (Schweden, Niederlande, Belgien, Frankreich und Schweiz). Im englischsprachigen Raum (USA, Großbritannien, Kanada) ist der Verzicht auf die Angabe der persönlichen Angaben (also jenen Informationen, die einen unmittelbaren Rückschluss auf die Identität des Bewerbers zulassen) seit Jahrzehnten gängige Praxis. Zur Bearbeitung dieser Thematik stütze ich mich vor allem auf die Erkenntnisse aus Deutschland, hierzu gab es eine entsprechende Testphase in den Jahren 2010 und 2011, die Ergebnispräsentation erfolgte 2012.
Bei der Pilotstudie[1] des deutschen Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) fallen mir einige einschränkende Besonderheiten auf, die ich hier kurz skizzieren möchte. Bei einer klassischen Bewerbung lassen zahlreiche Hinweise auf Geschlecht, Alter, Herkunft oder ähnliche Abgrenzungskriterien schließen – es ist vergleichsweise zeit- und kostenintensiv, eine so umfangreiche Anonymisierung in einem Betrieb einzuführen (insbesondere wenn rechtliche oder finanzielle Konsequenzen bei Nichterfüllung fehlen). Deshalb wurden bei der genannten Studie einige Organisationen aus dem öffentlichen Dienst gebeten, freiwillig an dieser Untersuchung mitzuwirken – der öffentliche Dienst hat bekanntlich andere Standards, wie beispielsweise transparente Einkommenstabellen (etwa nach Qualifikation oder Dienstjahren). Ein weiterer wesentlicher Punkt ist das Argument, dass Förderungen für die Beschäftigung von behinderten Personen beantragt werden können – dazu muss der Arbeitgeber aber um die Art und den Grad der Behinderung wissen – und gerade diese Informationen sind bei der anonymisierten Bewerbung nicht ersichtlich.
Umfang der Anonymisierung:
Die IZA-Studie listet zum Umfang der Anonymisierung folgende Kriterien auf: Name, Geschlecht, Kontaktdaten (aktueller Wohnort), Geburtsort und Nationalität, Behinderung, Geburtsdatum (bzw. Alter), Familienstand und Foto (mit dem Verweis, dass die Merkmale Religion, Weltanschauung und sexuelle Identität nicht explizit aufgeführt wurden, da sie üblicherweise ohnehin nicht in einer Bewerbung genannt werden – und falls doch, wurden diese Informationen ebenfalls unkenntlich gemacht). In manchen Bewerbungen wurde durch besondere Sprachkenntnisse (zB. Hindi, Suaheli) ein Hinweis auf die Herkunft/Auslandserfahrung des Bewerbers offenbart.
In der Studie wird darauf hingewiesen, dass auch aus dem Motivationsschreiben mittelbare Indizien Rückschlüsse auf das Bewerberprofil zulassen: „Ausbildung zur Bürokauffrau“ – entweder erfolgt ein direkter Aufruf an die Bewerber, solche Informationen besser erst im Bewerbungsgespräch anzuführen oder aber die zusätzliche Nachbearbeitung durch den Bewerbungsempfänger. Ebenfalls kritisch gesehen werden könnte die Beilage eines handschriftlichen Motivationsschreibens, daraus könnten einige der zu anonymisierenden Merkmale abgeleitet werden (Beispiel: Verwendung untypischer Sonderzeichen wie ñ, ç, ê und ї).
Zeugnisnoten und individuelle Beurteilungen spielen ebenfalls eine große Rolle. Meistens werden die Originalunterlagen eingescannt eingereicht, daher sind auch die beigelegten Zeugnisse bezüglich der Matrikelnummer (die ersten zwei Stellen entsprechen dem Jahr des Studienbeginns), Sozialversicherungsnummer (die letzten sechs Stellen ergeben das Geburtsdatum) und ähnlichen Kennziffern zu schwärzen. Schul- und Universitätsstandort kann ebenfalls vermeidbare Aufschlüsse zur Herkunft (bzw. zur sozialen Schicht der Eltern) geben, da es einen Unterschied macht, ob ich in 1010 Wien (Nobelviertel) oder am Land zur Schule gegangen bin. Meinen persönlichen Umgang mit Zeugnisnoten schildere ich später.
Ich könnte mir zusätzlich eine verpflichtende Anonymisierung der Zeiträume von Ausbildungs- und Arbeitsstellen vorstellen, da diese einen vergleichsweise genauen Rückschluss auf das Alter des Bewerbers zulassen (bei meinem Vater würde Schule 1962-1974 und Arbeit 1975-… im Lebenslauf stehen, daraus lässt sich schließen, dass er etwa 58 Jahre alt sein muss). Alternative dazu: die Angabe der Dauer in Monaten oder die Möglichkeit, vorgefertigte Kästchen anzukreuzen (unter 2 Jahren / 2-5 Jahre / mehr als 5 Jahre).
Methoden der Anonymisierung:
Es wurden vier verschiedene (und daher auch unterschiedlich aufwändige) Anonymisierungsverfahren zur Verfügung gestellt, diese sind:
- Standardisierte Bewerbungsformulare, in denen auf sensible Daten, die einen Rückschluss auf oben genannte Merkmale zulassen, verzichtet wird – bei drei der acht Organisationen.
- Blindschalten sensibler Daten durch ein Online-System (ohne Anpassung der Online-Maske) – bei einer Organisation.
- Anonymisierung durch Übertragen der Daten der Bewerbenden in eine standardisierte Tabelle (nach vorab festgelegten Kriterien) – bei einer Organisation.
- Schwärzen sensibler Angaben, die direkt oder indirekt Rückschlüsse auf die oben genannten Merkmale zulassen (per Hand oder im pdf-Dokument) – bei vier Organisationen.
Es scheinen mir noch weitere Anonymisierungsmethoden denkbar, wie etwa die Bewerbung in zweifacher Ausfertigung (eine davon anonymisiert) oder die Bewerbung mittels einer Online-Identifikationsnummer, die beim Anklicken automatisch zweierlei Folgen hat: es wird die Komplettansicht für den potenziellen Arbeitgeber freigeschaltet und gleichzeitig eine Nachricht an den Bewerber versandt, dass die Anonymisierung aufgehoben wurde (mit einem Terminvorschlag für das persönliche Bewerbungsgespräch oder der Bitte um Rückruf).[2]
Eigene Erfahrungen:
Ich habe dank meines außeruniversitären Engagements bereits beide Seiten – also jene des Bewerbers und jene des Bewerbungsempfängers – kennen lernen dürfen.
Als Bewerber schätze ich selbst meine personenbezogenen Daten eher als Vorteil ein (Geschlecht, Nationalität, Geburtsort, ansprechendes Profilfoto, gemeinnützige Tätigkeiten) – daher habe ich aus dieser Perspektive nie ernsthaft an eine anonymisierte Bewerbung gedacht. Datenschutz und möglicher Datenmissbrauch waren schon eher Anlass für Bedenken, die mich in Richtung Informationssparsamkeit (was benötigt der potenzielle Arbeitgeber wirklich, um mich einschätzen zu können) wandern ließen. Welche Institutionen mich nicht einluden, weil etwa meine Zeugnisnoten unterdurchschnittlich sind, lässt sich von hier aus nicht sagen – das wüsste ich selbst gern.
Als Bewerbungsempfänger habe ich bereits Dutzende Lebensläufe durchgelesen und beurteilt. Meine persönlichen Kriterien lagen (aufgrund unserer flachen Hierarchie) eher dahingehend, ob ich mir langfristig vorstellen kann, mit dieser Person zusammenzuarbeiten, ob diese Person fleißig ist, ob der Lebenslauf in korrektem Deutsch geschrieben wurde (jeder Mitarbeiter erhielt eine eigene Mailadresse und war für externe Korrespondenz selbst verantwortlich / Reputation unserer Institution) – und dann kamen erst Faktoren wie Alter und Zeugnisnoten. Wir konnten etwa die Hälfte der Bewerber zum Assessment-Center einladen und ein Viertel einstellen. Selbstverständlich sind uns auch „Fehler“ (bei der Zusage einem konkreten Bewerber gegenüber) unterlaufen – diese waren leider häufig im Zusammenhang mit Selbstüberschätzung des Bewerbers (die ausgeschriebene Position überstieg die Kompetenzen oder zeitlichen Ressourcen des Bewerbers), später aufkommendem Desinteresse oder mangelndem Integrationswillen in das bestehende Team zu suchen. Es kam rückblickend äußerst selten vor, dass wir uns direkt in der Positionsbesetzung getäuscht hätten – auch wenn ich offen gestehen muss, dass ich damals nicht auf die Möglichkeit von anonymisierten Bewerbungsverfahren geachtet habe. Ich hätte vermutlich noch stärker auf die individuellen Qualifikationen (bzw. auf die herausragenden Informationen) und den Stil des Motivationsschreibens geachtet, aber insgesamt wären ähnliche Teamkonstellationen dabei herausgekommen. Ich möchte an dieser Stelle hinzufügen, dass ich von Beginn an auf eine Steigerung der Frauenquote gedrängt habe, da ich ein stabiles Teamgefüge und Kreativität um mich herum brauche. Zu Beginn war bloß eine Dame (an einer IT-lastigen Position, sie betreute Social Media & Corporate Design) bei uns tätig, aktuell sind zwei von drei Vorständen weiblich. Ich würde allerdings nicht so weit gehen und automatisch der Frau den Vorzug bei gleicher Qualifikation geben - sondern im Zweifelsfall eine Person mehr zum Bewerbungsgespräch einladen und beide die Aufgaben des Assessment Centers durchlaufen lassen.
Fazit:
Ich bin grundsätzlich der Auffassung, dass die Einführung verpflichtender anonymisierter Bewerbungsverfahren aus rechtsphilosophischer Sicht problematisch erscheint, zum besseren Verständnis fasse hier ich die stärksten drei Argumente zusammen (gerne auf Anfrage auch in Langversion mit detaillierten Ausführungen zur Freiheit und zum Gemeinwohl erhältlich):
- Zippelius fordert eine gleichmäßige Belastung, diese kann schon von vornherein nicht erreicht werden, da heutzutage jeder Bewerber unterschiedlich gewichtet werden würde (zB. für Alter, Geschlecht, Herkunft) – manche Bewerber profitieren von der Anonymisierung, andere wiederrum verlieren dadurch ihr „gewohntes“ Niveau
- Kirste möchte Beeinträchtigungen der Freiheit abwehren – jedoch benötigt die Umstellung auf ein neues System immer Zeit & Geld (beides wesentliche Faktoren für eine Firma)
- Die Einführung des neuen Bewerbungsverfahrens geht mit der Erhöhung des (gefühlten) Gemeinwohls einher – jedoch müssen dafür subjektive Rechte, die seit langer Zeit bestehen, eingeschränkt werden. Da die Umstellung noch dazu finanzielle Benachteiligungen für den Einzelnen mit sich bringt, sind hier besonders hehre Rechtfertigungsgründe anzuführen, die wohl nicht erbracht werden können
Abschließende Bemerkungen:
In der IZA-Studie wird der Vorteil von Imagegewinn und Employer-Branding angeführt: „Mit der Bekanntgabe, dass man Bewerbungen anonymisiert einsieht, wird signalisiert, dass eine möglichst objektive Bewerberauswahl angestrebt wird. Organisationen können sich so als offener Arbeitgeber präsentieren und ggf. neue Bewerber/innengruppen erschließen.“ Transparenz ist hier ein weiterer Anknüpfungspunkt, denn ein „geschärftes Anforderungsprofil, in dem die Gewichtung der Auswahlkriterien festgelegt ist, [erleichtert] die Entwicklung eines Bewerbungsformulars und unterstützt die Objektivität bei der Personalfindung“.
An dieser Stelle möchte ich auch mein zuvor bloß vage umschriebenes Argument, wonach einige Positionen aufgrund persönlicher Kontakte oder hübschen Aussehens besetzt wurden, näher ausführen. Es wird immer gewisse vakante Posten (zuletzt bei der Suche nach einem neuen Finanzminister als Nachfolger für Michael Spindelegger) geben, bei denen aufgrund der geforderten Qualifikationen nur wenige Personen infrage kommen – in diesem speziellen Fall wussten die einschlägigen Tageszeitungen schon Tage vor der eigentlichen Entscheidung, welche Kandidaten aussichtsreich waren. Etwas anders ist der Fall bei der Besetzung nach Aussehen gelagert, da unter anderem Models für Werbekampagnen von ihrem ausdrucksstarken Gesicht her ausgesucht werden. Wer könnte sich einen Rollstuhlfahrer oder einen 50jährigen Mann vorstellen, am Laufsteg Bekleidung oder Stöckelschuhe zur Schau stellt? Hier scheint es gerechtfertigt, auf die Anonymisierung der Bewerbungsunterlagen zu verzichten – zumal auch hier der Kreis der potenziellen Auftragnehmerinnen von vornherein bereits erheblich eingeschränkt ist und die Auftraggeber an öffentlichkeitswirksame Schönheitsideale gebunden sind (die Umstellung soll ja nicht zwangsläufig dazu führen, dass den Firmen Gewinn entgeht oder sie sich eine negative Reputation einhandeln). In der IZA-Studie wird von einem weiteren Fall aus dem IT-Segment berichtet, dort „wurden aufgrund der geringen Bewerbungszahl alle Bewerbenden zum Vorstellungsgespräch eingeladen. In diesem Fall wurde die Anonymisierung von Bewerbungen bzw. eine Maßnahme zur Herstellung von Chancengleichheit überflüssig. Grundsätzlich sollte also vorher geprüft werden, ob eine Anonymisierung notwendig bzw. sinnvoll erscheint“.
Drei weitere negative Argumente haben sich während meiner Recherche aufgetan, zum einen ist das der Einzelkämpfer-Drang anstelle von Gruppenarbeiten (die sich nicht individuell zuordnen lassen, plötzlich braucht jeder Absolvent einen perfekten Werdegang, kleinste Lücken werden hinterfragt, weil sonst kaum aussagekräftige Angaben zu finden sind). Zum anderen wünschen sich viele Betriebe sogar gezielte Diversifikation (Arbeitnehmer aus verschiedenen Herkunftsländern und Altersgruppen) innerhalb des Beschäftigtenkreises – ohne Angabe von Namen oder Nationalität ist dies schwieriger zu erreichen. Profitieren würden von einer solchen Maßnahme vor allem die intelligenten Bewerber (die ihren Lebenslauf geschickt anpassen können und mit Wortwitz gewisse Formulierungen provozieren) – die bislang benachteiligten Personen (mit unterdurchschnittlichen Noten oder Bildungsstandards bzw. auffallend vielen kurzen Beschäftigungsverhältnissen in der letzten Vergangenheit) werden vermutlich auch in Zukunft selten zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen.
Abschließend möchte ich noch einige positive Aspekte von an0nymisierten Bewerbungsverfahren hervorstreichen: ich erwarte mir potenziell höhere Leistungen im Unternehmen, wenn nur noch die Höchstqualifizierten zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden, die Jugendarbeitslosigkeit wird kurzfristig sinken (da sich junge Arbeitnehmer vermutlich vielfältigere Ausbildungswege suchen werden, um aus der Masse an Bewerbern hervorzustechen – dies ist ihr Vorteil gegenüber älteren Bewerbern), man beginnt, Verantwortung für seinen eigenen Lebenslauf zu übernehmen und wird sich bemühen, diesen besonders schön zu gestalten (wenn es nicht mehr auf ein hübsches Profilfoto oder einen gebietstypischen Familiennamen ankommt) und schließlich werden sich mehr Personen bewerben, die zuvor von einer Bewerbung abgesehen haben (weil sich diese bislang keine nennenswerten Chancen auf ein Bewerbungsgespräch ausgerechnet haben).
Die freiwillige bzw. doppelgleisige Einführung (parallel zum herkömmlichen Angebot) des Anonymisierungsprozesses kann ich durchaus unterstützen, wenn sich etwa die Firma neu positionieren möchte (Transparenz, Chancengleichheit) oder insgesamt auf mehr Bewerber angewiesen ist – jedoch denke ich, dass die verpflichtende Einführung im Sinne einer Zwangsmaßnahme nicht nur positive Effekte mit sich bringen wird (und daher aus rechtsphilosophischer Sicht nicht uneingeschränkt zulässig ist).