Ein verregneter Sonntagnachmittag, ich sitze mit meinem Vater in der Straßenbahn. Die nächste Station wird angesagt, die Garnitur kommt zum Stillstand. Die Türen öffnen sich. Es ist eine größere Station, es herrscht Gedränge. Ein älterer Herr in einem bunten Fleecepullover besteigt langsam den Waggon, er hat einen schwarzen Rucksack über eine Schulter gehängt. Er geht etwas gebückt, greift nach der Stange beim Einstiegsbereich, um sich festzuhalten. Ein junger Mann kommt selbstsicheren Schrittes in mein Blickfeld. Er trägt einen weiten schwarzen Anorak, Trainingshosen und Turnschuhe. Er ist kaum größer als ich, mir fällt sein stark gerötetes Gesicht auf, vermutlich Verbrennungen zwischen Kinn und Augen.

Es sind keine Sitzplätze frei, jedoch sind mehr als ausreichend Stehplätze und Haltegriffe verfügbar. Der Jugendliche rempelt den älteren Herrn, der gerade gedankenverloren durch die Scheibe nach draußen blickt, grob an und sagt im selben Augenblick: „Aufpassen! Siehst doch, dass ich da gehe?!“. Es wird schlagartig still im Waggon. Weiter vorne fangen sofort ein paar ältere Damen wieder verstohlen zu flüstern an. Das könne ja nicht sein, da müsse doch mal jemand eingreifen! Der ältere Herr erwidert halbherzig, dass der Junge etwas Respekt vor dem Alter zeigen solle. Der Jugendliche lacht breit und dreht sich zu seiner Freundin um. „Hast du das gesehen? So ein ...“

Ich sitze immer noch, habe meinen Rucksack am Schoß. Ich spüre die Anspannung in meinem Körper, stelle mir tausend Fragen zugleich: aufstehen oder sitzen bleiben, ist der gefährlich, soll ich etwas sagen? Ich unterbreche den Jugendlichen, nachdem alle anderen wegschauen oder ausweichen: „Ja, wir haben das alle hier gesehen“ und mache eine Geste mit der Hand, die die anderen Fahrgäste miteinschließt. „Das geht so nicht!“, stelle ich fest. Der Jugendliche, sichtlich nicht gewohnt, dass ihm jemand widerspricht: „Hast das gesehen, was der draußen gemacht hat? Der ...“. „Nein, das habe ich nicht gesehen. Es geht aber nicht, dass du hier herinnen rumstänkerst.“ Er fängt zu stottern an, dreht sich hilfesuchend zu seiner Freundin um. „Der, also ... ich, ich stänkere, wo es mir passt.“ Da schaltet sich auch mein Vater ein: „Du brauchst da gar nicht stänkern.“ Der Jugendliche ist verwirrt, denn mein Vater sitzt etwas abseits und es ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, ob wir zusammengehören. Seine Freundin greift ein: „Jetzt beruhigen wir uns alle mal ein bisschen.“

Ich habe danach mit meinem Vater darüber gesprochen und wir sind zu dem Ergebnis gelangt, dass es wichtig ist, in solchen Situationen den oder die Betroffenen zu unterstützen. Dabei ist im Sinne einer gewaltfreien Konfliktlösung zu empfehlen, ruhig, sachlich, zugleich aber unmissverständlich auf den Stänkerer einzureden und ihm klar zu machen, dass viele die Situation beobachtet haben und der Meinung sind, dass sein Verhalten inakzeptabel sei. Ich will mich abends guten Gewissens in den Spiegel schauen können - und das könnte ich nicht, wenn ich tagsüber wegschaue.

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Claudia Tabachnik

Claudia Tabachnik bewertete diesen Eintrag 17.02.2016 08:37:46

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 16.02.2016 23:39:45

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